Um den Terroranschlag in Moskau tummeln sich mittlerweile einige Verschwörungstheorien. Zwar hat der IS-Ableger ISPK («Islamischer Staat in der Provinz Khorasan» – eine historische Region in Zentralasien) die Tat für sich reklamiert. Dennoch wittern verschiedene Stellen ganz andere Drahtzieher.
Der Kreml versucht, eine ukrainische Spur herzustellen. Andere wiederum glauben, Wladimir Putin (71) selbst steckt hinter dem Blutbad mit mittlerweile 143 Toten.
Zuletzt wurde eine Theorie von den «Männern in Blau» verbreitet. Sie legt nahe, dass sich Agenten des russischen Geheimdienstes FSB unter die Konzertbesucher gemischt hatten, um wenige Stunden später die Tadschiken, die im Crocus City Hall mit Gewehren um sich schossen, im Wald in der Region Brjansk zu verhaften. Neuste Erkenntnisse zeigen jedoch, dass an diesen Annahmen nichts dran ist. Aber der Reihe nach.
Vier Männer in blauen Pullis im Konzertsaal
Nicht nur beliebige X-User hatten vor wenigen Tagen die wackeligen Bilder-Vergleiche geteilt, auch der belarussische Oppositionskanal Nexta verbreitete die «Blaue Männer»-Theorie. Dass der FSB im Konzertsaal vertreten war, sollte demnach die Kleidung bestimmter Besucher «beweisen».
In den Aufnahmen der Augenzeugen aus dem Inneren des Saals sind nämlich vier Männer zu sehen, die alle blaue Pullis und Jeans tragen und wenige Sekunden, bevor die Schüsse ertönen, aufrufen, die Türen zu verschliessen.
Zuerst beim Konzert und später bei der Verhaftung in Brjansk?
Zu zwei dieser Protagonisten hatte Nexta dann noch weitere Details publiziert, die eine Verbindung zum Geheimdienst hätten glaubhafter machen sollen.
Ihrem Bericht legte Nexta ein Foto eines Mannes bei, das auf der Website eines Sportzentrums in der Moskauer Gemeinde Sosenskoje publiziert war. Er posierte mit einer Urkunde für den dritten Platz bei einem Wettbewerb im Armdrücken. Ebenfalls in Sosenskoje befindet sich das Hauptquartier des Militärnachrichtendienstes.
Zu einem weiteren Mann schreibt Nexta, dass es dieselbe Person sein soll, die einige Stunden später bei der Verhaftung im Wald mit von der Partie war. «Sein Gesicht ist durch eine Maske verdeckt, aber seine Gesichtszüge, die Form seines Kopfes und die Position seiner Augen deuten darauf hin, dass es sich um dieselbe Person handelt.»
Nexta schlussfolgert daraus, dass FSB-Agenten die blaue Farbe nutzen, um unentdeckt in der Masse zu verschwinden, sich aber gleichzeitig gegenseitig einfach erkennen zu können.
«Liebe Verschwörungstheoretiker, tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen»
Nun kommt raus: Die «Männer in Blau»-Konstruktion ist wohl nichts mehr als eine weitere Verschwörungstheorie.
Der Gründer des internationalen, investigativen Recherchenetzwerks Bellingcat, Eliot Higgins (45), schreibt auf X: «Liebe Verschwörungstheoretiker, es tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen, aber es stellte sich heraus, dass der ‹FSB-Mann im blauen Pullover› ein gewöhnlicher Erdölarbeiter namens Alexei Druschkow war, der weder mit dem FSB noch mit dem Mann mit der Maske etwas zu tun hat.»
Zusammen mit weiteren Journalisten zerpflückt Bellingcat die Theorie mit den «blauen Männern».
Sportlehrer und Erdölarbeiter
Der «FSB-Mitarbeiter» aus Sosenskoje entpuppte sich als Sportlehrer Dmitri Jerochin, wie Maxim Litawrin, Journalist des russischen unabhängigen Projekts Mediazona, und ein weiterer unabhängiger Journalist, Andrej Sacharow, herausfanden.
Ein weiterer «Sonderagent» wurde von Roman Dobrochotow (40), Chefredaktor des Investigativ-Mediums «The Insider», und Christo Grosew (54) von Bellingcat, als Alexei Druschkow identifiziert. Druschkow arbeitet demnach bei einem Forschungsinstitut für Erdölarbeiten.
Laut Nexta wäre es derselbe Mann, der in den Verhaftungsvideos auftaucht – dort aber maskiert ist. Mehrere Investigativ-Journalisten, darunter auch Aric Toler von der «New York Times», weisen darauf hin, dass zu einem anderen Zeitpunkt derselben Videoaufnahme das ganze Gesicht des Mannes zu sehen ist, weil seine Maske abrutscht. Dort werde demnach deutlich, dass es sich um zwei verschiedene Männer handeln muss, weil der Mann im Wald einen Bart trage, der Konzertbesucher dagegen rasiert sei.
Gesichtserkennungsprogramm fällt vernichtendes Urteil
Christo Grosew hat zudem die Personen mithilfe eines Gesichtserkennungsprogramms verglichen. Das Resultat: Auch wenn sie sich zu 74 Prozent ähneln, sind es dennoch unterschiedliche Menschen. Denn der Schwellenwert liege bei 80 Prozent, wie Grosew erklärt.
Ein Vergleich des Konzert-Screenshots mit einem Foto derselben Person in den jüngeren Jahren zeige dagegen einen Treffer. Grosew stellte das Foto des Konzertbesuchers in den jüngeren Jahren dem Videoscreenshot von der Wald-Verhaftung gegenüber. Hier fällt das Urteil noch vernichtender aus: nur zehn Prozent Übereinstimmung.