Viel konkreter hätte die Warnung der US-Behörden an Russland nicht sein können: Am 7. März mahnten die Amerikaner vor der «Terrorgefahr an Konzerten innerhalb der nächsten 48 Stunden». Die Vermutung liegt nahe, dass der Anschlag eigentlich eines der Konzerte des russischen Mega-Stars Shaman (32) hätte treffen sollen. Wladimir Putins (71) Lieblings-Barde trat in den Tagen nach der US-Warnung gleich dreimal in der Crocus City Hall auf.
Doch die Terroristen kamen später als von den USA vermutet. Und dran glauben mussten nicht die Anhänger von Shaman, sondern die Fans der alternden Band Piknik. Dass die tadschikischen Angreifer ursprünglich Shaman im Visier hatten, bleibt wahrscheinlich. Denn: Was er für Putin leistet, macht ihn im russischen System derzeit fast unersetzlich.
Der Russe – mit bürgerlichem Namen heisst er Jaroslaw Dronow – suchte mit seinem eindrücklichen Stimmorgan jahrelang vergeblich nach Anerkennung. Seine Teilnahme an den russischen Ausgaben von «X Factor» und «The Voice» brachten nicht den Durchbruch, seine weissen Dreadlocks blieben im Dunkel der russischen Pop-Tiefen.
Song zum Kriegsbeginn: Alles nur Zufall?
Dann aber veröffentlichte der Sänger sein Lied «Wstanem» («Lasst uns aufstehen!») – genau einen Tag vor Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Im Lied besingt Shaman die russischen Helden im Zweiten Weltkrieg und ruft seine Landsleute dazu auf, geschlossen hinzustehen und durchzuhalten. Alles nur Zufall? Er selbst sagte in einem Interview: «Der Song ist mir von oben diktiert worden.»
Oben: In Russland kann das zwei Dinge bedeuten: Gott – oder Putin. Beiden hat der gutaussehende Sänger mit dem düsteren Dresscode seine Seele verschrieben. Bei den Präsidentschaftswahlen hat er für Putin die Werbetrommel gerührt. Mehrfach stand er bei grossen Auftritten gemeinsam mit dem russischen Präsidenten auf der Bühne. Und in immer neuen Liedern wie «Ich bin Russe», «Wir» und zuletzt «Mein Kampf» packt der Stimmkünstler die russische Kriegspropaganda in hübsch anzuhörende Hymnen, vorgetragen mit einer Stimme, die selbst Putin-kritische Experten sprachlos zurücklässt.
Shaman trägt seine Unterstützung für Putins Krieg alles andere als subtil vor. In seinen Videos verwendet er Aufnahmen russischer Soldaten in der Ukraine. Und er reiste vor einem Jahr sogar selbst in die besetzten Gebiete, um den russischen Truppen in Mariupol und Cherson vorzusingen. Ursprünglich weigerte er sich zwar, als Kriegsbarde an die Front zu gehen (offiziell, weil seine Frau es ihm verboten habe). Shamans Kriegsreise mit schusssicherer Weste und umgehängter Gitarre aber liess dann keinen Zweifel daran, wer im Hintergrund des Pop-Phänomens den Takt angibt: nicht die Gattin, sondern Putin.
Mit Sound im Ohr kämpft es sich besser
Gott kommt in den Liedern des derzeit beliebtesten Sängers in Russland ebenfalls gut weg. Der ernste Blick geht oft nach oben, das Kreuz baumelt um den Hals und die Ikonen der russischen Orthodoxie sind allgegenwärtig. Seine weissen Dreadlocks liess sich Shaman vergangenes Jahr publikumswirksam von einem orthodoxen Priester in einem abgelegenen russischen Kloster abschneiden. Und frisierte sich neu. Und als er in Moskau im März an die Wahlurne trat, bekreuzigte er sich, bevor er für Putin einwarf.
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Musiker im Kriegsdienst ihrer Heimatländer sind nichts Neues. Die Hornisten auf den mittelalterlichen Schlachtfeldern; die preussischen Marsch-Musiker; der russische Publikumsliebling: Sie alle zeigen, dass es sich mit Sound im Ohr einfach besser kämpft.
Und nebenher lässt sich via Baller-Balladen auch das Gemüt der Zurückgebliebenen in Russlands Weiten erheitern. Da singt einer ganz schön und überzeugt von diesem Krieg. Muss richtig sein. Stimmen wir ein.
Putins Propaganda in westlichen Harmonien
Ironischerweise setzt der Russe Shaman für seine Hits konsequent auf westliche Harmonien, wie die im Exil lebende russische Musikwissenschaftlerin Anna Vilenskaya jüngst gegenüber «Arte» erklärt hat. Sein Hit «Ich bin Russe» basiert auf denselben harmonischen Mustern wie der Song «Zombie» der irischen Band The Cranberries. «Lasst uns aufstehen» ist ganz im Stile einer italienischen Arie komponiert. Die Russen, so scheint es, mögen ihre Kriegspropaganda hübsch verpackt in europäischen Melodien.
Natürlich hat Shaman auch umgehend auf den Terroranschlag in Moskau reagiert. «Ich werde die Beerdigung jedes Opfers und die Behandlung aller Verletzten bezahlen», liess er seine Millionen Follower über die sozialen Medien wissen. Umgerechnet 50'000 Franken hat er bereits ans Russische Rote Kreuz überwiesen. Den Song «22.3.24», den er unmittelbar nach dem Anschlag zu Ehren der Opfer eingespielt hat, dürfte ihm ein Vielfaches dieses Investments zurück in die Kassen spülen.
«Niemand kann uns brechen, wir werden nie mehr aufgeben», singt Shaman darin. Bislang behält der Barde recht damit.