In den aktuellen Delta-Hochburgen Niederlande und Grossbritannien herrscht plötzlich Entspannung. In den vergangenen sieben Tagen wurden in den Niederlanden insgesamt rund 37’000 neue Corona-Infektionen registriert – viele, aber 46 Prozent weniger als in der Vorwoche. Das teilte das zuständige Institut für Gesundheit und Umwelt mit.
Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Ansteckung pro 100’000 Einwohner, lag in der letzten Woche noch bei 215 Fällen. Auch diese hat im Vergleich zur Vorwoche (400 Fälle) klar abgenommen. Zur Veranschaulichung: In der Schweiz liegt dieser Wert zurzeit bei 58, in Deutschland bei 15.
Die Regierung in Den Haag hatte Ende Juni fast alle Massnahmen aufgehoben, worauf die Sieben-Tage-Inzidenz explosionsartig auf 415 anstieg. Die Regierung zog darauf die Notbremse. Sie liess Discos und Bars schliessen. Auch Festivals und Partys sind vorderhand bis 13. August verboten.
Experten staunen und rätseln
Auch in Grossbritannien sinken die Zahlen, obwohl Premierminister Boris Johnson (57) den 19. Juli zum Freedom Day ausgerufen und alle Massnahmen abgeschafft hat. Kaum zu glauben: Innert fünf Tagen ist die Sieben-Tage-Inzidenz vom Spitzenwert 492 auf 372 abgestürzt.
Johnson war wegen der Lockerung scharf kritisiert worden. Nun staunen die Experten. Stephen Griffin, Virologe an der Universität von Leeds, sagte der «Financial Times»: «Der jüngste Rückgang in England ist eine grossartige Nachricht, aber auch rätselhaft, wenn man bedenkt, dass es zu einer schrittweisen Lockerung der Beschränkungen gekommen ist.»
«Wir lernen jeden Tag dazu»
Als mögliche Gründe kommen die hohe Impfquote der Briten sowie die hohe Durchseuchung wegen der Fussball-EM infrage. Eine Erklärung könnte aber einfach auch sein, dass sich jetzt weniger testen lassen, weil viele Briten einer drohenden Quarantäne entgehen wollen.
Und Oxford-Wissenschaftler James Naismith gibt zu: «Viele Wissenschaftler, ich selbst mit eingeschlossen, erwarten nach dem Ende der Abriegelung einen Anstieg der Fälle. Aber wir haben uns schon einmal geirrt und werden uns auch in Zukunft irren. Dies ist eine neue Krankheit und wir lernen jeden Tag dazu.»
«Noch ist es zu früh, Hurra zu schreien»
Auch in der Schweiz sieht es derzeit besser aus, als noch vor kurzem befürchtet wurde. Nachdem die Fallzahlen in den vergangenen Wochen wieder stark gestiegen sind, scheinen sie nun zu stagnieren. 771 neue Ansteckungen hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Mittwoch registriert. Fast genauso viele wie vor einer Woche. Der R-Wert ist seit Anfang Monat aber deutlich gesunken. Er wird aktuell auf rund 1,3 geschätzt. Das heisst, dass 10 Infizierte im Schnitt 13 weitere Personen anstecken.
Die Entwicklung sei überraschend, sagt Virologe Andreas Cerny (65). Überraschend positiv. «Noch ist es aber zu früh, Hurra zu schreien», fügt er an. Denn der R-Wert liegt noch immer deutlich über 1. Damit die Ansteckungen zurückgehen, müsste er darunter liegen.
Anstieg nach Sommerferien befürchtet
«Dass die Kurve nun abflacht, könnte damit zusammenhängen, dass die Delta-Variante ihre Schlagkraft verloren hat», sagt Cerny. «Sie hat uns überrollt und ist nun die dominierende Virus-Variante.» Delta macht inzwischen über 97 Prozent aller Fälle aus.
Der Virus-Experte rechnet damit, dass es nach dem Ende der Sommerferien zu einem erneuten Anstieg kommen könnte. Denn in den Feriendestinationen Spaniens und Frankreichs sind die Fallzahlen jüngst in die Höhe geschnellt – und manch ein Heimkehrer dürfte das Virus mit nach Hause bringen. Auch die Rückkehr an die Schulen und Universitäten kann die Verbreitung fördern.
Der Virologe betont, wie wichtig vor diesem Hintergrund das Contact Tracing bleibt. «Nur so finden wir heraus, wo sich die Menschen angesteckt haben und wo wir die Kontrollen eventuell noch verbessern könnten.»