Grossbritannien und Singapur haben beide erklärt, mit Covid zu leben. Dies, nachdem beide Länder vor dem Coronavirus gewissermassen kapitulieren. Denn mit Impfungen und Massnahmen liess sich das Lungenfieber kaum kontrollieren. Singapur zählt die täglichen Ansteckungen nicht länger, konzentriert sich dagegen auf die schweren Fälle und hofft, dass Covid-19 bald wie eine weniger schwere Krankheit behandelt wird - wie Grippe oder Blattern.
In Grossbritannien hat Premier Boris Johnson (57) Warnungen von rund 100 Ärzten und Wissenschaftlern in den Wind geschlagen, die Öffnung am Montag zu widerrufen. Delta, so die Experten, stelle ein zu grosses Risiko dar. Johnson hält an der Öffnung fest und rief die Bevölkerung dazu auf, persönliche Verantwortung zu übernehmen. Er empfiehlt, in überfüllten und geschlossenen Räumen weiterhin Masken zu tragen - trotz der Aufhebung der Maskenpflicht.
Welchen Weg wird die Schweiz gehen, wenn sich immer deutlicher abzeichnet, dass auf Impfungen allein kein Verlass scheint, der Pandemie beizukommen? Denn auch die von der Schweiz verwendete Biontech/Pfizer-mRNA-Impfung sei «deutlich weniger» wirksam gegen Delta als erhofft, sagte etwa der israelische Premier Naftali Bennett (49) am Freitag. «Wer auch immer gehofft hat, dass die Impfstoffe allein das Problem lösen würden, sie tun es nicht». «Grenzen des Impfstoffs» gehörten erkannt und verstanden, so Bennett.
Diesen Covid-Weg soll die Schweiz gehen
Auch in der Schweiz steigen die Corona-Fallzahlen wieder exponentiell, die Impfkampagne stockt. Das beunruhigt auch Anne Lévy, Direktorin des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). «Wir wussten, dass sie steigen, wenn wir öffnen. Aber wir haben nicht erwartet, dass sie so früh so stark steigen», sagt Lévy im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Leute seien generell weniger vorsichtig, seit geimpft werde und es kaum mehr Massnahmen gebe.
Sorge bereiten ihr vor allem die vielen über 50-Jährigen ohne Impfung. Für diese sei eine schwere Erkrankung wahrscheinlicher als bei Jüngeren. Doch auch die BAG-Direktorin beginnt sich mit einer neuen Realität abzufinden: Ganz wegbringen werde man das Virus nicht mehr: «Wir werden eines Tages mit Covid leben lernen.»
Dann, so die oberste Gesundheitlerin der Schweiz, könnten Schutzmassnahmen zur Normalität werden: «So wie in asiatischen Ländern. Dort ist es selbstverständlich, eine Maske zu tragen, wenn man erkältet ist.» Es sei jetzt aber nicht ratsam, dass Menschen wieder leichtsinniger würden. Ihr sei bereits zweimal wieder die Hand gereicht worden. «Natürlich» habe sie nicht eingeschlagen, so Levy. «Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Abstand halten, Handhygiene und Maskentragen ist weiterhin wichtig», sagt sie. Ihre Botschaft sei, auch bei Ferien im Ausland: «Egal wo du bist, schütze dich.»
Balance zwischen Freiheiten und Massnahmen
Doch sie sorge sich, dass «wir nicht wissen, was auf uns zukommt». Geimpfte, sagt sie, leisten einen Beitrag zur Bewältigung des Problems. Doch das Virus «werden wir wohl nie mehr wegbringen». Wie in Asien werde in der Zukunft wohl auch in der Schweiz Maske getragen werden. Dort komme es «sehr schlecht an, wenn man erkältet ist und im Bus niest». Dank Maskentragen habe es diesen Winter auch keine Grippewelle gegeben.
Die Schweiz habe seit dem Ausbruch der Pandemie auf ein gutes Gleichgewicht zwischen Freiheiten und Massnahmen geachtet, fährt Lévy fort. «Diese Balance ist uns nicht schlecht gelungen.» Ob jeweils zu spät oder zu strikt reagiert worden sei? «Heute würden wir gewisse Sachen sicher anders machen.» Es sei wie bei Überschwemmungen: «Man muss man mit solchen Ereignissen umgehen. Man kann die Menschen nicht sterben lassen.» (kes)
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