Es ist erst wenige Wochen her, da warnte «Professor Lockdown» Neil Ferguson (53) die Briten vor einem Anstieg der täglichen Corona-Neuinfektionen auf bis zu 200'000. Gerade auch mit dem «Freedom Day» – der Aufhebung sämtlicher Massnahmen in England, nicht jedoch in Schottland, Wales und Nordirland – erwarteten viele Epidemiologen einen starken Anstieg der Corona-Infektionen und Spital-Einlieferungen. Mittlerweile mehren sich die Anzeichen, dass die Corona-Zahlen nachhaltig zurückgehen: Die Zahl der täglich registrierten Neuinfektionen ist zum sechsten Mal in Folge gesunken.
Am Montag vermeldeten die Gesundheitsbehörden noch 24'950 neue Corona-Fälle. Das ist ein Rückgang von 38 Prozent im Vergleich zu den 39'950 Fällen am Montag der Vorwoche. Die Gesamtzahl der Fälle in den letzten sieben Tagen ist im Vergleich zur Vorwoche um mehr als 20 Prozent zurückgegangen. Die Zahlen zeigen, dass das Virus in allen Regionen auf dem Rückzug ist. Auch in den Gebieten in England, die zuletzt stark betroffen waren.
Grossteil bis Oktober überstanden?
Die neusten Zahlen stimmen sogar Ferguson, einen der radikalsten Warner des Landes, verhalten positiv. Der Epidemiologe, der die britische Regierung im vergangenen Jahr mit seiner Schock-Prognose von 500'000 Corona-Toten von einem Lockdown überzeugte, glaubt inzwischen, dass das Schlimmste bald überstanden sein könnte. «Ich vermute, dass wir den Grossteil der Pandemie per Ende September bis Oktober hinter uns haben», sagt Ferguson laut «Daily Mail».
Covid werde immer noch da sein, es würden immer noch Menschen daran sterben, relativiert Ferguson zugleich. Zudem sei die Situation noch immer unsicher, ein erneutes Ausschlagen der Kurve sei nicht ausgeschlossen. Trotzdem: Der Abwärts-Trend scheint dem Epidemiologen zufolge «echt» zu sein. Aber wie kam es dazu?
Vermutlich viele Infektionen an der Fussball-EM
Der Epidemiologe Paul Hunter von der Universität East Anglia sieht einen Zusammenhang zwischen den inzwischen sinkenden Infektionszahlen und dem Ende der Fussball-EM. Er sagte die nun eingetretene Trendumkehr korrekt voraus. Hunter glaubt, dass sich während der Europameisterschaft viele junge Leute infizierten. Es werde deshalb rund zwölf Tage nach dem Finale zu einem Rückgang der neu verzeichneten Fälle kommen, lautete seine Prognose.
Im Vereinigten Königreich besteht jetzt ein hoher Grad an Immunität. Einerseits durch die Impfungen, denn 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind doppelt geimpft. Andererseits aber auch durch die vielen Menschen, die das Virus bereits hatten.
In dieser Hinsicht könnte die Fussball-EM laut Hunter sogar einen positiven Effekt bei jüngeren Bevölkerungsschichten gehabt haben, wie er gegenüber «The Times» erklärt: «Viele Leute werden sich vielleicht darüber empören, dass ich das sage, aber letztendlich könnte sich herausstellen, dass die Europameisterschaft dazu beitrug, den Rest des Sommers weniger anstrengend zu machen, da wir effektiv viel mehr jüngere Menschen immunisiert haben, die sich nicht hätten impfen lassen.» Allerdings müsse er in diesem Zusammenhang betonen, dass er das niemals im Voraus als Kontrollstrategie vorschlagen würde.
Folgen der neusten Lockerungen noch nicht sichtbar
Die Hoffnung besteht, dass mit dem Rückgang der Neuinfektionen bald auch die Spitaleinlieferungen abnehmen werden. Die neuesten Zahlen vom 23. Juli zeigen, dass zuletzt 5'238 Covid-Patienten im Spital behandelt wurden. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der letzten Welle waren es rund 40'000.
Die britische Regierung nennt die neuen Zahlen «ermutigend». Laut dem Sprecher von Premierminister Boris Johnson (57) ist die Pandemie aber noch nicht vorbei. Die Auswirkungen der massiven Lockerungen vom 19. Juli sind aufgrund der langen Zeitspanne zwischen Ansteckung mit dem Virus und dem Auftreten der Symptome zudem noch nicht sichtbar. Experten gehen davon aus, dass sich die Folgen frühestens Ende dieser Woche zeigen werden. Da viele Menschen die gelockerten Vorschriften möglicherweise erst am Wochenende nach dem 19. Juli in Anspruch genommen haben, vielleicht auch später.
Ungewissheit besteht auch, weil im Herbst die Schulen wieder öffnen und die Menschen sich wegen des schlechteren Wetters wieder mehr in geschlossenen Räumen aufhalten werden.