Als eine Patrouille des iranischen Geheimdienstes sie zum Anhalten auffordert, wissen die zwei kurdischen Rebellen, dass sie nur eine Wahl haben: Gas geben. «Wir waren in der Nacht auf Motorrädern unterwegs», erzählt Zubeir. «Sie haben auf uns geschossen und die Verfolgung aufgenommen. Wir fielen hin und versteckten uns im Dunkeln. Unser Leben stand auf dem Spiel.»
Das war im Mai 2017. Zubeir war unterwegs mit seinem Mitstreiter Qader B.* (†32) – jener Mann, der am 8. Februar 2024 zum Geiselnehmer von Yverdon VD wurde. Der Iraner nahm in einem Zug 13 Menschen als Geiseln und wurde von der Waadtländer Polizei erschossen.
Gemeinsam in den Widerstand gegangen
Qaders Weggefährte Zubeir erzählt weiter: «Wir hatten es geschafft, die Geheimagenten abzuschütteln. Wir rannten in die Berge und überquerten illegal die Grenze nach Irakisch-Kurdistan, das etwa 15 Kilometer entfernt liegt.» Acht Tage zuvor hatten sich die beiden Widerstandskämpfer in ihrer Stadt Piranchahr im Nordwesten des Irans heimlich den Reihen der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran (DPKI) angeschlossen.
Diese linke kurdische Partei im Iran definiert sich als «fortschrittlich» und «feministisch», vom Regime wird sie als terroristisch eingestuft. Sie hat einen bewaffneten Arm, ihre militärischen Aktivitäten aber weitgehend eingestellt.
Qader sei «ein ganz normaler und angenehmer Mensch gewesen», berichtet Zubeir. «Zu zweit haben wir Propagandaaufgaben für die Partei erledigt.» Slogans auf Wände geschmiert, Unabhängigkeitsmärsche über die Lautsprecher von Moscheen abgespielt, Flyer verteilt.
Leben im Lager der Partei
An dem Abend, an dem sie entdeckt werden, kommen sie von einer solchen Aktion zurück. Die beiden schlossen sich dem Lager Jazhnikan an, das der PDKI gehört und am Stadtrand von Erbil liegt, der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt der autonomen Region Irakisch-Kurdistan. In der Region gibt es fünf weitere Lager dieser Art mit insgesamt etwa 2000 Haushalten. Der Alltag ist trostlos.
Wer war dieser Qader B.? Litt er bereits vor seiner Ankunft in der Schweiz unter psychischen Problemen?
Qader B. war auch ein Schmuggler
Ein Teil der Wahrheit liegt hier, im Lager Jazhnikan, das Blick am 5. und 6. März besucht hat. In den 73 gleich aussehenden Betonhäusern leben etwa 140 Familien von Mitgliedern der Exilpartei. Zivilisten, darauf bestehen die Vertreter der Bewegung.
Mitstreiter Zubeir sagt, Qaders sei auch aus einem weiteren Grund in Lebensgefahr gewesen: «Er war ein sogenannter ‹Kolbar›.» Um zu überleben, transportierte er illegal Waren über die Berge zwischen dem Iran und dem Irak. Jedes Jahr sterben Dutzende dieser Schmuggler bei Unfällen oder werden von der iranischen Armee liquidiert. Zubeirs Frau serviert Kardamomtee. Er zündet sich eine Zigarette an.
Für die Sicherheit des Lagers zuständig
Die Gefährten Zubeir und Qader führten seit ihrer Ankunft im Lager im 2017 verschiedene Aufgaben für die Partei aus. Hauptsächlich jedoch seien sie für den Schutz des Lagers und die Kontrolle der Eingänge zuständig gewesen.
Während der zwei Nachmittage, die wir innerhalb der Lagermauern verbringen, können wir uns nicht frei bewegen. Ein junger Mann folgt uns auf Schritt und Tritt. Sein Name ist Muhammad. Er ist der Kontaktmann des Parteikomitees, der uns zu den Gesprächspartnern bringt. Der ehemalige lokale Kickbox- und MMA-Champion ist auch der Leiter des Sicherheitsteams.
Er sagt: «Ich war Qaders Vorgesetzter.» An der Wand in Muhammads Wohnzimmer hängen historische Fotos von kurdischen Führern und ein echtes Gewehr in einem goldenen Rahmen.
Qader B. hinkte leicht
Laut Muhammad hatte Qader B. wegen seiner Prothese am linken Bein nie ein Militärcamp der PDKI besucht. Wegen der Prothese humpelte er leicht. Die Waadtländer Polizei gab an, dass Qader B. auf die Polizisten zugerannt sei. Muhammad sagt: «Wenn er lief, wurde er schnell müde und musste sich immer wieder hinsetzen. Er konnte nicht wie Sie und ich rennen. Es war unmöglich, dies nicht zu bemerken.»
Muhammad spricht liebevoll über seinen ehemaligen Untergebenen. «Er achtete auf sein Äusseres, parfümierte sich, war immer gut gekleidet, hatte eine gute Frisur und einen gestutzten Bart. Er war auf der Suche nach Liebe.» Im Iran war er getrennt und hatte bei seiner Flucht einen Sohn bei seiner Familie zurückgelassen.
Humor und gute Laune
Qader B. habe Musik geliebt, Gitarre gespielt, und er sei humorvoll gewesen. «Er brachte alle zum Lachen», erzählt Muhammad. Und: «Er hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können.» Es habe keine Anzeichen für eine psychische Erkrankung gegeben, betonen alle Gesprächspartner.
Im Jahr 2021 entschied sich Qader, in eine andere aufzubrechen. «Ich war der Erste, zu dem er kam, um darüber zu sprechen», sagt Muhammad. «Er erzählte mir, dass er davon träumt, wieder zu heiraten und frei zu sein. Wissen Sie, unsere Kinder haben eine schwierige Zukunft vor sich: Ohne irakischen Pass ist es schwer, einen Job zu finden.» Einige PDKI-Mitglieder lebten seit 45 Jahren im Lager und hätten immer noch keine Papiere, sagt Mehmed Salih, der in Erbil für die Aussenbeziehungen der PDKI zuständig ist und telefonisch erreichbar war.
Darüber hinaus gibt es de facto so gut wie keine Bewegungsfreiheit. «Das Lager zu verlassen ist gefährlich», sagt Muhammad. «Ich habe es seit einem Jahr nicht mehr getan. Die Agenten des Regimes sind überall.» 2023 tötete der Iran nach Angaben der PDKI vier ihrer Mitglieder.
Angriffe mit Drohnen
Das Lager werde immer wieder von Drohnen der Islamischen Republik angegriffen, heisst es. Es kursieren ein Video und ein Foto, die auf den 15. Januar 2024 datiert sind. Auf dem Bild ist eine zerstörte iranische Drohne zu sehen. Sie sei auf das Lager gefallen, nachdem sie von den Flugabwehrsystemen der internationalen Koalition abgeschossen worden sei, sagt Nader. Er war ein enger Freund von Qader B. – und erlebte den Niedergang aus der Ferne mit.
Auf seiner Reise in die Schweiz über die Türkei, Griechenland, den Balkan und Italien hielt Qader seinen Freund Nader ständig über seine Aktivitäten auf dem Laufenden. In der Schweiz, wo er im August 2022 ankam, verschlechterte sich sein Zustand, wie Nader bestätigt. Qader B. wurde mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen.
«Qader erzählte mir, dass er eine Frau namens Carine** kennengelernt habe, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, die ihn aber in den sozialen Netzwerken blockierte. In den letzten Monaten war er wie besessen. Er sprach nur noch von ihr, vergass manchmal, mir Hallo zu sagen.» Das ging so weit, dass Nader nicht mehr ans Telefon ging.
Verfolgungswahn und Erotomanie
«Er schickte mir ein Foto, aber ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich ein Bild von Carine ist. Er litt an einer psychischen Krankheit, er wurde paranoid und dachte, er werde beobachtet. Eines Tages sagte er mir, dass er durch das Essen und die Medikamente im Asylzentrum vergiftet worden sei. Er weinte nur noch.» Die Aussagen von Nader stimmen mit anderen Zeugenaussagen überein, insbesondere mit Berichten des Westschweizer Fernsehens RTS, das aufdeckte, dass Qader B. Carine belästigt hatte. Die Frau hatte die Waadtländer Polizei informiert.
Ein Verwandter von Qader B. in Deutschland sagt zu Blick, dass bei Qader B. Erotomanie diagnostiziert worden sei. Eine Form der paranoiden Psychose, die durch wahnhafte Überzeugung gekennzeichnet ist, von einer bestimmten Person geliebt zu werden. Qader B. habe mindestens einmal Temesta, ein angstlösendes Mittel, und das Antipsychotikum Zyprexa erhalten.
Laut derselben Quelle reiste Qader im Sommer 2023 nach England, um Carine zu vergessen. Dann kehrte er in die Schweiz zurück. Später wollte er in die Ukraine gehen, wo er angeblich sterben wollte. Er wurde jedoch in Polen festgenommen, bevor er im Winter in die Schweiz zurückgeschickt wurde, so RTS.
Auffällige körperliche Veränderung
Der psychische Zustand von Qader B. zeigt sich auch in seinem abgemagerten Gesicht. Seine körperliche Verwandlung zwischen Mai 2022 und Juni 2023 ist offensichtlich. Als wäre er um 15 Jahre gealtert. «Er war tatsächlich kaum wiederzuerkennen», bestätigt Nader und zeigt einen Screenshot eines Videoanrufs mit Qader B.
Die schreckliche Fortsetzung ist bekannt: Während der Geiselnahme bei Yverdon wollte Qader B. ultimativ mit Carine sprechen. Die Frau wurde von einer Polizeistreife zum Tatort gebracht, kam aber zu spät, wie RTS berichtete.
Unverständnis für die Schweizer Polizei
Im Irak herrscht Unverständnis. Ali, ein religiöser Führer im Dorf, ist «schockiert über das Verhalten der Polizei». «Was er getan hat, ist inakzeptabel, aber Qader war kein Terrorist, er wollte nur mit dieser Frau sprechen. Ich verstehe nicht, warum die Polizei ihn erschossen hat, obwohl er nur Stichwaffen hatte und behindert war: Selbst in einer Diktatur wäre das nicht passiert. Warum hat man ihm nicht in die Beine geschossen?»
Die Familie von Qader B. erstatte einige Tage nach der Geiselnahme Strafanzeige. Eine Untersuchung wurde eingeleitet.
Sind die Schweizer Behörden verantwortlich?
Die PDKI-Mitglieder, mit denen Blick gesprochen hat, machen die Schweizer Behörden für die Verschlechterung des psychischen Zustands von Qader B. verantwortlich. Wenn die Schweiz und der Kanton Genf ihn richtig behandelt hätten und sein Asylantrag, der als legitim angesehen wurde, schnell angenommen worden wäre, hätte die Tragödie vermieden werden können, behaupten sie.
War Qader B. wirklich suizidgefährdet? Wollte er von den Sicherheitskräften erschossen werden? Oder hatte er einen psychotischen Schub? Hätte er unter Kontrolle gebracht werden können? Haben die Schweizer Behörden ihn richtig behandelt? Das wird die Waadtländer Justiz zu beurteilen haben.
* Name bekannt
** Name geändert