Blick in der gefährlichsten Front-Stadt der Ukraine
«Hier leben nur noch Geisteskranke und Pro-Russen»

Wie viele Menschen noch in Pokrowsk leben, weiss niemand. Hier gibt es keinen Strom, kein Netz, keine Polizei oder Ambulanz. Geschäfte wurden geplündert. Die Russen bombardieren permanent. Reportage aus der gefährlichen Stadt der Ukraine.
Publiziert: 20.03.2025 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 20.03.2025 um 08:16 Uhr
Früher lebten 100'000 Menschen in Pokrowsk. Heute ist nur noch hier, wer sich eine Flucht nicht leisten kann.
Foto: Helena Graf

Darum gehts

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Helena GrafReporterin

Andrii Onistrat (51) steuert seinen verbeulten Skoda an ausgebrannten Autos vorbei. «Das da ist neu» – er deutet auf das Skelett eines Trucks. Wir fahren über die schnurgerade Strasse von Bilezke nach Pokrowsk. Sieben Kilometer allein. Keine Menschenseele. Onistrat biegt links ab, über die Gleise des einstigen Bahnhofs und sagt: «Willkommen am gefährlichsten Ort der Ukraine.»

Pokrowsk, eine Stadt im Bezirk Donezk, ganz im Osten der Ukraine. Die Schützengräben sind nur wenige Kilometer entfernt. Einst eine Grossstadt mit 100’000 Einwohnern. Heute sind es nur noch ein paar Tausend. Wie viele genau, weiss niemand. Denn eigentlich ist dieser Ort nicht mit dem Leben vereinbar. Blick hat es geschafft, mehrere Stunden diese Stadt des Todes zu besuchen und mit den Menschen zu sprechen.

«Nicht mal die Türen da gelassen»

Andrii Onistrat wurde als Geschäftsmann und Bankier zum Millionär. 2022 trat er freiwillig der Armee bei. «Wenn Krieg herrscht, müssen wir kämpfen», findet er. Onistrat leitet die Drohnen-Einheit innerhalb der 155. Brigade. Auf seinem Schoss liegt ein Drohnen-Detektor. Der piepst ständig. Manchmal fängt er ein Signal ab. Dann wird das Bild der Drohnen-Kamera auf den kleinen Bildschirm übertragen und wir wissen, ob wir uns verstecken müssen.

Einer der letzten Einwohner von Pokrowsk.
Foto: Helena Graf

Im Minutentakt hören wir Bomben einschlagen. Wir steigen aus. Ein alter Mann schiebt sein klappriges Velo über Glasscherben und Schrapnell Richtung Markt. Zerstörte Häuser reihen sich aneinander. Die Geschäfte – leergeräumt. Der Mann mit dem Velo bleibt vor einem einstigen Laden stehen. Was hier verkauft wurde, ist nicht mehr zu erkennen. «Die Inhaber sind letzten Dezember geflüchtet. Dann kamen die Plünderer. Nicht mal die Türen haben sie da gelassen», sagt er.

So leben die Menschen am gefährlichsten Ort der Ukraine
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Zwischen Trümmern und Drohnen:So leben die Menschen am gefährlichsten Ort der Ukraine

«Werden sofort auf uns schiessen»

Auf einer Bank am Strassenrand sitzt ein jüngeres Paar, vielleicht um die 40. Die Frau wühlt in ihrer Tasche, streckt mir eine Hygienemaske entgegen, um mein Gesicht zu putzen. Wir haben uns als Arbeiter verkleidet. Ich trage die Uniform eines ukrainischen Bahnarbeiters, mein ukrainischer Übersetzer die einer lokalen Kohlenmine. Er hat uns Russ auf die Wangen geschmiert. Denn Andrii Onistrat hatte uns gewarnt: «Wenn die russischen Drohnen merken, dass ihr Journalisten seid, werden sie sofort auf uns schiessen.»

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Andrii Onistrat (51) und Blick-Reporterin Helena Graf (26) in Pokrowsk. Aus Sicherheitsgründen musste sich Graf als Arbeiterin verkleiden.
Foto: Helena Graf

Ich bin die erste Journalistin, die Pokrowsk seit über einem Monat besucht. Vom Stadtzentrum sind es etwa drei Kilometer zu den russischen Schützengräben. Es gibt kein fliessendes Wasser, keinen Strom, kein Handynetz. Die Menschen sind auf sich gestellt. Unerreichbar für Polizei und Rettungsdienste.

Der alte Mann mit dem Velo erklärt: «Ich habe keine Angst. Weder vor Russen noch vor Ukrainern.» Später sehen wir, wie ihm ein anderer Bewohner eine Flasche Wodka reicht. «Hier leben nur Geisteskranke und Pro-Russen», sagt Onistrat. 

Andrii Onistrat kämpfte mit seinem ältesten Sohn im Ukraine-Krieg.
Foto: zVg

Er ist Marathonläufer und Triathlet. Normalerweise joggt er nach Pokrowsk. 15 Kilometer hin und zurück. Denn die Drohnen haben es auf Autos abgesehen. In der Stadt sucht Onistrat nach geeigneten Positionen für seine Drohnen-Piloten. Von seinem Vermögen kauft er Ausrüstung für die Armee. 

Pokrowsk kann ihm nichts. Den schlimmsten Schmerz spürt er schon. Sein ältester Sohn (22) ist im Sommer 2023 an der Donezk-Front gestorben. Wenn Onistrat versucht, von ihm zu erzählen, muss er jedes Wort rauswürgen: «Er wollte immer der Mutigere sein. Ich war der Grund, dass er in den Krieg zog. Und ich bin schuld, dass er tot ist.» 

«Ich will nur Frieden»

Swetlanas Stand ist der einzige, an dem es noch Lebensmittel zu kaufen gibt. Sie hat ihr ganzes Leben in Pokrowsk verbracht. Es wäre Verrat, die Stadt zu verlassen, findet sie. «Nennt mich ruhig eine, die auf die Russen wartet. Aber ich will nur Frieden.» Und wie könnte es Frieden geben? «Keine Ahnung. Wir können hier keine Nachrichten schauen», sagt sie.

Swetlana verkauft Lebensmittel auf dem lokalen Markt.
Foto: Helena Graf

Die Marktbesucher haben uns bemerkt. Sie schauen mit verzogenem Gesicht auf meine Kamera. Ich schalte sie aus. Ein Marktbesucher sagt auf Russisch: «Deinetwegen werden sie uns alle in die Luft jagen.» Kommandant Onistrat antwortet: «Warum würden sie euch noch töten wollen?» 

Wir kehren um, verlassen den Markt. Ein Mann folgt uns, schreit: «Ich zertrümmere dir erst dein Gesicht und dann deine Kamera.» Andrii Onistrat dreht sich zu mir, sagt sanft: «Das ist nicht der Mensch in ihm, der so spricht. Das ist dieser höllische Alltag.» Später erzählt er mir, er sei kurz davor gewesen, seine Pistole zu zücken. «Ich hätte in die Luft geschossen. Wenn das nichts gebracht hätte, jemandem ins Bein. Zum Glück musste ich das nicht.»

«Gott gab mir seinen Segen»

Krieg ist Leid, Verlust, Tod. Doch erzählt werden Geschichten der Brüderlichkeit, Aufopferung, Widerstandskraft. Sie helfen, die Angst zu ertragen. Für viele in Pokrowsk sind das nichts als Märchen. Hier zeigt der Krieg ungeschminkt sein hässliches Gesicht.

In der evangelischen Kirche gibt es zwei grosse Tanks mit Trinkwasser. Die Menschen füllen Kessel und Kanister. Maria erzählt, Gott habe ihr die Angst genommen. «In der Kirche gab er mir seinen Segen. Von da an wusste ich, dass alles gut werden würde.»

Maria musste mehrmals die Bleibe wechseln, weil die Wohnhäuser weiterhin beschossen und zerstört werden.
Foto: Helena Graf

Mittlerweile lebe sie schon seit längerem am gleichen Ort. Davor habe sie die Bleibe mehrmals wechseln müssen. «Ich kam eines Tages von draussen zurück und meine Wohnung stand in Flammen», sagt sie. «Also suchte ich mir eine neue. Und dann wieder eine, als die neue zerstört wurde.»

«Werde bis zum Schluss bleiben»

Ihre Familie lebt in der Westukraine. Sie will nicht flüchten. «Ich werde bis zum Schluss hier bleiben.» Maria hofft auf Verhandlungen, einen Waffenstillstand – und glaubt an Frieden. «Die nächsten Generationen werden sich vergeben und wieder zusammenleben können», sagt sie.

Wir steigen wieder in Andrii Onistrats Wagen, fahren durch das am schlimmsten zerstörte Quartier der Stadt. Zwei ukrainische Soldaten verlassen gerade ihr Versteck in den Ruinen eines Einfamilienhauses. Onistrat erzählt: «Mein Sohn war 22. Er war erst einmal mit einer Frau zusammen.»

Er sei dagegen, dass so junge Männer an die Front geschickt würden. Auch er wünsche sich ein Ende des Kriegs. Aber: «Ohne Sicherheitsgarantien werden uns die Russen vernichten.»

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