Darum gehts
Im Pokerspiel um einen Frieden ist diese Stadt der Wetteinsatz: Cherson im Süden der Ukraine. Die Stadt wurde 2022 von den Russen erobert. Dann von den Ukrainern befreit. Und trotzdem können hier bald wieder russische Fahnen wehen. Denn Machthaber Putin will in einer «Minimallösung» noch immer den ganzen Bezirk annektieren. Die Menschen hier leben jeden Tag in Angst, von einer russischen Drohne getötet zu werden. Der Feind ist in Sichtweite, direkt am anderen Ufer des Dnjepr. Besatzung oder tödlicher Beschuss? Cherson kennt beide Höllen.
«In gewisser Weise ging es uns während der Besatzung besser», sagt ein Bewohner gegenüber Blick. Ist ein dreckiger Frieden mit Putin nicht besser als dieses ständige Sterben?
Olena Tarasenko (47) erinnert sich genau an den Abend, als fünf russische Soldaten an ihre Tür klopfen und ihr befehlen, mitzukommen. «Ich durfte mich noch von meiner 81-jährigen Mutter verabschieden.» Sie ziehen ihr eine Mütze über die Augen, setzen sie in einen Minibus.
«Haben mir Elektroschocks verpasst»
Tarasenko wurde in jener Nacht im Herbst 2022 in ein russisches Untergrundgefängnis geworfen. «An manchen Tagen bekamen wir eine Schüssel Haferbrei und durften aus der Zelle raus, um in einer aufgeschnittenen Plastikflasche unser Geschäft zu verrichten. An anderen mussten wir ohne Essen und Toilette ausharren, den Schreien der Gefangenen zuhören», erzählt sie.
Der Grund für die Festnahme: Sie half bei Evakuierungen aus der besetzten Stadt und betrieb eine Facebook-Gruppe, die Geld für Soldatenausrüstung sammelte. Die russischen Soldaten holen sie zu einer «Befragung» in den Folterraum. «Sie haben mich an einen Stuhl gebunden und mir Elektroschocks verpasst», erinnert sie sich.
«Mache kein Auge zu»
Die Erinnerungen daran seien schwer zu ertragen, sagt Olena Tarasenko. «Wenn du das erlebt hast, zuckst du nicht einmal mehr mit der Wimper, wenn um dich herum Häuser bombardiert werden.»
Und bombardiert wird pausenlos. Im Bezirk Cherson wurden an die 600 Zivilisten durch Beschuss getötet – viele davon nach der Befreiung.
In einem anderen Stadtteil lebt eine Frau mit demselben Vornamen: Olena Yermolenka (68) zeigt ein Foto auf ihrem Handy, Überreste einer Rakete vor dem Tor ihres Hauses. «In manchen Nächten mache ich kein Auge zu, weil es so laut ist», erzählt sie.
«Es gibt keinen Frieden mit Putin»
Die Fensterscheiben ihres kleinen Einfamilienhauses hat sie mit Klebeband verstärkt. Damit die Scherben nicht in alle Richtungen fliegen, sollte die Scheibe bersten. Olena und ihr Mann Valentyn haben während der Besatzung Informationen an die ukrainischen Streitkräfte geliefert, den Widerstand organisiert. Das macht sie zu einem attraktiven Ziel für die Russen.
Valentyn Yermolenko (66) erzählt: «In gewisser Weise ging es uns während der Besatzung besser. Wir haben daran geglaubt, dass die ukrainische Armee Cherson befreien wird.» Die Hoffnung habe sie damals angetrieben. Nun seien die Russen zwar weg, doch ihr Schicksal könnten sie nicht mehr selber bestimmen. Millionen Menschenleben – für Trump und Putin einfach Verhandlungsmasse. Von den Friedensgesprächen halte er nichts, so Yermolenko. «Es gibt keinen Frieden mit Putin. Nicht einmal einen dreckigen.»
Seine Frau Olena ist sich sicher: «Wenn Russland die annektierten Gebiete behalten kann, fühlt sich Putin gestärkt. Als Nächstes greift er die baltischen Staaten an und Polen, Deutschland. Den Schmerz, den wir fühlen, wünsche ich keinem anderen.»
«Können nirgendwo hin flüchten»
Etwas ausserhalb der Stadt führt Tetiana Stramnova eine kleine Ziegenfarm. Sie öffnet das Tor zum Gehege, die Tiere scharen sich um sie. Babyziegen knabbern an ihren Schuhen, die Älteren springen an ihr hoch. In der Ferne kracht es. «Das Leben an der Front ist schwer für meine Tiere, sie sind dauernd gestresst, haben Fehlgeburten», erzählt sie.
Stramnova kommt ursprünglich aus Donezk. Sie fühle mit den Menschen dort, die noch immer unter russischer Besatzung leben. «Wenn sie sich als Ukrainer sehen, werden sie verfolgt. Und anders als wir können sie nirgendwohin flüchten.»
Gleichzeitig fürchtet sie, dass der Bezirk Cherson bei den Verhandlungen Russland zugesichert wird. Denn der russische Machthaber Wladimir Putin will nach wie vor die gesamten ukrainischen Bezirke Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk unter seine Kontrolle bringen, um seinem Volk die sogenannte Spezialoperation Ukraine als erfolgreich zu verkaufen.
Raisa Ponomarenko (65) war Vorsteherin von elf Dörfern entlang des Dnjepr, unweit der Stadt Cherson. 10’000 Menschen lebten hier, überwiegend Pensionierte und Familien. Die Besatzung sei ziemlich ruhig verlaufen, erinnert sich Ponomarenko. Richtig schlimm wurde es, als die Russen vor der Gegenoffensive flohen.
«Sie zerschossen alles», erinnert sie sich. In den darauffolgenden Monaten zerstört die russische Armee neun der elf Dörfer. Viele flüchten. 800 Menschen bleiben zurück. Obwohl während der Besatzung viel weniger Menschen starben, ziehen viele den aktuellen Kriegszustand vor. «Lieber leben wir in den Trümmern, ohne Dach über dem Kopf. Denn unter Russland zu sein – das ist gar kein Leben mehr.»