Ukraine ist offiziell als Beitrittskandidat angenommen
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EU sagt klar Ja:Ukraine ist offiziell als Beitrittskandidat angenommen

Blick erklärt den Streit über die Transitsperre zur russischen Exklave Kaliningrad
Russen nehmen Baltikum ins Visier

Litauen hat den Bahntransit von Waren, die auf westlichen Sanktionslisten stehen, über sein Territorium zur russischen Exklave Kaliningrad verboten. Der Kreml reagierte empört und droht mit Gegenmassnahmen. Jetzt rudert die EU zurück.
Publiziert: 24.06.2022 um 00:33 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:43 Uhr
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Ein russischer Güterzug von Kaliningrad Richtung Litauen. Ab sofort darf nicht mehr alles transportiert werden.
Foto: keystone-sda.ch
Guido Felder

Das kleine Litauen griff vor zehn Tagen gegen das grosse Russland durch – und stützt sich dabei auf EU-Sanktionen: Russische Züge, die durch litauisches Gebiet zur russischen Exklave Kaliningrad unterwegs sind, dürfen gewisse Waren nicht mehr transportieren. Moskau ist verärgert und droht mit Vergeltung.

Laut Berichten laufen allerdings EU-Gespräche über ein Ende eben dieser Massnahme, insbesondere auf Drängen Deutschlands. Wie der «Spiegel» vorab meldet, will die EU-Kommission dem Kreml mit einem Deal entgegenkommen. Demnach dürfe Moskau die Transitstrecke nach Kaliningrad wieder für alle Güter nutzen, doch nur in begrenztem Umfang.

Wieso genau blockiert Litauen bestimmte Güterzüge? Krebst die EU jetzt faktisch zurück? Und wer schützt in einem Ernstfall das kleine Land? Blick klärt die drängendsten Fragen.

Was ist Kaliningrad?

Die Oblast Kaliningrad ist eine russische Exklave, eingeklemmt zwischen den EU- und Nato-Staaten Polen und Litauen sowie der Ostsee. Für den Kreml ist das «Mini-Russland» mitten in Europa einer der wichtigsten Stützpunkte überhaupt. Hier hat Moskau die Ostsee-Flotte stationiert. Hier stehen auch Kampfjets, ein Frühwarnsystem und nuklearwaffenfähige Iskander-M-Raketen.

Kaliningrad ist ein Drittel so gross wie die Schweiz und zählt gerade mal knapp eine Million Einwohnerinnen und Einwohner. Für die Versorgung besteht die Vereinbarung mit Litauen, dass Russland von Belarus aus Personen und Waren per Bahn durch die sogenannte Suwalki-Lücke transportieren darf. Die Luftlinie von Belarus bis Kaliningrad misst 66 Kilometer, der Grenzverlauf 100 Kilometer.

Kommt die EU Putin jetzt also entgegen?

Das zumindest behauptet die litauische Regierung in Vilnius. «Die Deutschen üben Druck auf die Kommission aus, um durchzusetzen, dass die Sanktionen nicht für Kaliningrad gelten. Sie fürchten, dass ihre Soldaten in einen militärischen Konflikt geraten könnten und lassen sich von Russland einschüchtern.»

Während aus Vilnius Kritik ertönt, möchte die EU Litauen nicht blossstellen. Der «Spiegel» zitiert aus litauischen Regierungskreisen, dass offenbar insbesondere Berlin über das Vorgehen Litauens verärgert war. Ein Transport von Russland nach Russland sei auch unter Sanktionen erlaubt.

Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis (40) machte in einem Interview klar, dass sein Land «keine zusätzliche Klarstellung» im Konflikt angestrebt habe. «Was präsentiert wurde, ist ausreichend und klar», so Landsbergis. Russland dürfe «keinen diplomatischen Sieg» davontragen.

Welche Waren blockiert Litauen aktuell noch?

Zu den von Litauen gesperrten Waren gehören unter anderem Zement, Kohle, Baumaterialien und Metalle. Laut dem Kaliningrader Gouverneur Anton Alichanow (35) sind 40 bis 50 Prozent des Transits zwischen dem russischen Kernland und der Exklave betroffen.

Während Russland von einer «Blockade» spricht, sagt die litauische Regierungschefin Ingrida Simonyte (47): «Es gibt keine Blockade von Kaliningrad. Es ist nur so, dass seit dem vergangenen Wochenende Sanktionen für einige der im sogenannten Sanktionspaket enthaltenen Güter in Kraft sind.»

Für Russland weckt das Wort «Blockade» schmerzhafte Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, als die deutsche Wehrmacht Leningrad, heute St. Petersburg, blockierte. Damals starben über eine Million Menschen.

Welche Auswirkungen haben die Massnahmen?

Die gesperrten Güter muss Russland nun über den Seeweg von St. Petersburg nach Kaliningrad bringen – das ist aufwendiger und viel teurer. Der Gouverneur von Kaliningrad gibt sich gelassen: Man habe eigenen Strom und eigene Lebensmittel. Sogar Touristen gebe es genug.

Könnte die Suwalki-Brücke auch für Personen verboten werden?

Litauen wird nur Sanktionen der Organisationen umsetzen, denen es angehört, also der EU und der Nato. Militärexperte Mauro Mantovani (58): «Das Land wird nicht darüber hinausgehen, eher werden Ausnahmeerleichterungen gewährt.»

Womit hat Moskau gedroht?

Moskau werde auf solche «feindlichen Handlungen» mit Gegenmassnahmen antworten, sagte der russische Sicherheitsratschef Nikolai Patruschew (70) nach Bekanntwerden der Massnahme. «Deren Folgen werden schwere negative Auswirkungen auf die Bevölkerung Litauens haben.» Verschiedene Politiker fordern eine «Selbstverteidigung» und den Einsatz von Atomwaffen, wenn es zu einer vollständigen Blockade kommen würde.

Wie könnten die «Gegenmassnahmen» Russlands aussehen?

Litauen ist nach den Worten von Präsident Gitanas Nauseda (58) auf die angedrohten russischen Vergeltungsmassnahmen vorbereitet. Dazu gehöre ein Ausschluss Litauens aus dem gemeinsamen Stromnetz mit Russland. Mauro Mantovani zieht zudem weitere Einschränkungen des Exports bis hin zu einem Embargo sowie Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur in Betracht.

Hätte es im Baltikum zum Krieg kommen können?

Der Duma-Abgeordnete Oleg Morosow (68) schlug vor, den Landkorridor militärisch freizuschlagen. In Moskau wurde auch spekuliert, Russlands Luftwaffe könne den Luftraum über Litauen kapern und Kaliningrad mittels Frachtmaschinen versorgen.

Doch Mauro Mantovani rechnet nicht mit einem militärischen Angriff. «Die Russen kennen den Beistandsartikel der Nato. Zudem haben sie keine Bodentruppen mehr zur Verfügung für einen weiteren Schauplatz.»

Wie würde die Nato bei einem Angriff reagieren?

Die Nato hat in den vergangenen Wochen in den baltischen Staaten aufgerüstet. «Die Nato würde Litauen auf jeden Fall beistehen», sagt Mantovani. Die Russen wüssten ganz genau, mit welchen Konsequenzen sie auf jede Form von Einmischung zu rechnen hätten.

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