Wenn der russische Präsident Wladimir Putin (69) laut über die Möglichkeit eines Atomschlags nachdenkt oder die Russen in Kaliningrad militärische Übungen mit Atombomben durchführen, versetzt das die ganze Welt in Alarmbereitschaft. Denn der Kreml verfügt über das weltweit grösste Nuklearwaffenarsenal – und über einen unberechenbaren Präsidenten.
Putin kündigte am Mittwoch eine Mobilmachung von 300'000 Reservisten an. Bei der TV-Ansprache drohte er: «Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff.» Es war unmissverständlich: Für Putin ist auch der Einsatz von Atomwaffen nicht vom Tisch.
Weltweit fast die Hälfte in russischer Hand
Von den rund 13'000 Atomwaffen auf der Welt gehören 5977 den Russen, wie das Nuclear Notebook des «Bulletin of the Atomic Scientists» festhält. 4477 davon sollen funktionsfähig sein, 1500 wurden ausser Dienst gestellt und sollten im Laufe der Zeit im Rahmen der Abrüstungsverträge vernichtet werden.
Experten gehen davon aus, dass Russland zurzeit rund 900 Sprengköpfe unmittelbar – das heisst innert weniger Minuten – einsetzen könnte.
Modernisierung der Waffensysteme
Russland arbeitet seit mehreren Jahrzehnten an der Modernisierung seiner atomaren Streitkräfte aus der Sowjet-Ära. Laut Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) wurden bis 2021 die alten Waffensysteme zu knapp 90 Prozent bereits mit modernen ausgetauscht. Ziel dieser Modernisierung soll unter anderem sein, den von den USA geplanten Raketenschirm durchdringen zu können.
Auch die russischen Flugzeuge werden teilweise aufgerüstet. Russland hat zwei atomwaffenfähige schwere Bomber: den «Blackjack» Tu-160 und den «Bear» Tu-95. Es wird geschätzt, dass es 60 bis 70 Flugzeuge gibt.
Auswirkungen auf die Schweiz
Zu unterscheiden sind dabei strategische und taktische Atomwaffen. Strategische Atomwaffen werden nicht im direkten Gefecht, sondern über weite Distanz eingesetzt. Sie können mehr als 5500 Kilometer Strecke zurücklegen, also zum Beispiel die Strecke von Moskau nach Washington. Von den strategischen Atomwaffen besitzen die Russen 2565.
Stephen Herzog (35), Nuklear-Experte am Center for Security Studies (CSS) der ETH: «Die Sprengköpfe werden auf strategischen Systemen installiert, das heisst, auf bodengestützten ballistischen Raketen, die sich in Silos oder auf mobilen Einheiten befinden, auf atomgetriebenen U-Booten oder schweren Bombern.»
Alle grösseren Städte der USA könnten laut Herzog innerhalb von 30 Minuten von russischen ballistischen Raketen zerstört werden. Umgekehrt gelte das auch für russische Städte. Für Städte in europäischen Nato-Ländern betrage der Zeitrahmen sogar nur rund 20 Minuten.
Selbst die neutrale Schweiz könnte betroffen sein. «Sie wäre im Falle eines Atomkriegs in Europa nicht in der Lage, die Auswirkungen der Radioaktivität zu vermeiden», erklärte Herzog im Mai gegenüber Blick. Damals sorgten die Russen wegen Militärübungen mit Atombomben in der Enklave Kaliningrad für Aufsehen.
Taktische Waffen für den Kampf
Neben den strategischen Atomwaffen verfügt Russland über schätzungsweise 1912 taktische Nuklearsprengköpfe. Stephen Herzog: «Das sind Atomwaffen mit kürzerer Reichweite und geringerer Sprengkraft, die für den Einsatz auf dem Schlachtfeld bestimmt sind.» Sie seien als Kräfteausgleich vorgesehen, wenn eine Kriegspartei ihre militärischen Ziele mit konventionellen Waffen nicht erreichen könne.
Ein Atomschlag wäre fatal. Die Bombe auf Hiroshima im Jahre 1945, die heute als kleine Atombombe gilt, hat rund 200'000 Menschen getötet. Herzog: «Das Zentrum der Explosion brannte für einige Mikrosekunden buchstäblich heller als die Sonne.» Der Feuerball erreichte eine Temperatur von rund 300'000 Grad und verbrannte alles im Umkreis von zehn Quadratkilometern.
Experten rechnen nicht mit Schlag
Obwohl sich das Risiko eines russischen Atomschlags in letzter Zeit erhöht hat, rechnen Experten nicht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit. Russland-Experte Ulrich Schmid (56) von der Universität St. Gallen sagt zu Blick, dass bei einem Beitritt der ukrainischen Provinzen Donezk, Luhansk und Cherson allerdings eine zusätzliche Eskalation droht, sollte die Ukraine dort weiter angreifen.
Putin würde demnach in diesem Fall in die «Opferrolle» schlüpfen, hätte plötzlich Argumente, um eine Generalmobilmachung auszurufen und einen Atomschlag auszuüben. Dass Letzteres eintreffen wird, glaubt Schmid nicht: «Ich halte das für sehr unwahrscheinlich», sagt er. «Ein Atomschlag gegen die Ukraine würde Putins ohnehin bröckelndem Rückhalt in der russischen Gesellschaft einen schweren Schlag versetzen.»