Frankreich ist wütend. Es findet ein Aufstand derer statt, die bisher geschwiegen haben. Seit den Enthüllungen der Juristin Camille Kouchner über ihren bekannten Stiefvater brachen im Land zahlreiche Opfer sexualisierter Gewalt ihr Schweigen.
Die mutmasslichen Täter sind bekannte Persönlichkeiten der Pariser Elite aus Politik und Gesellschaft. Es geht um nicht weniger als Pädophilie und Inzest, aber auch um sexuelle Übergriffe unter Studierenden. Die Vorwürfe kommen mit einer solchen Wucht, dass auch die Regierung nicht mehr die Füsse still halten kann.
Enthüllungen einer Juristin lösen intensive Debatte aus
Kouchner veröffentlichte im Januar ein Buch – «La familia grande» («Die grosse Familie») heisst es. Darin lastet sie ihrem Stiefvater und bekannten Pariser Politologen Olivier Duhamel an, vor über drei Jahrzehnten gegenüber ihrem damals minderjährigen Zwillingsbruder sexuell übergriffig geworden zu sein.
Duhamel war zwar nicht direkt auf die Vorwürfe eingegangen, hatte aber nach deren Bekanntwerden seine Funktionen niedergelegt. Kouchner löste mit ihrer Schilderung eine Debatte über Missbrauch aus, die in Frankreich in ihrer Intensität mit der weltweiten MeToo-Welle vor einigen Jahren vergleichbar ist.
Missbrauchsvorwürfe trotz Kenntnis über Jahre ignoriert
In der Pariser Intellektuellen-Elite sollen die Missbrauchsvorwürfe längst bekannt gewesen sein. Und trotzdem seien sie über Jahre dezent ignoriert worden. Was folgte, waren weitere Rücktritte – zuletzt nahm der Direktor der Elite-Uni Sciences Po, Frédéric Mion, seinen Hut, nachdem er die Affäre zunächst einfach hatte aussitzen wollen. Doch am Ende war der Druck wohl zu gross: Unter den Studierenden regte sich massiver Protest. Mion hatte zuvor eingeräumt, dass er schon vor Jahren von Vorwürfen gegen Duhamel erfahren hatte.
Die Autorin und Verlegerin Vanessa Springora hatte bereits im vergangenen Jahr mit Vorwürfen gegen einen gefeierten Schriftsteller Pädophilie in der Literatur- und Intellektuellenszene angeprangert. Der Schock sass tief, Aktivistinnen schrieben an Pariser Hauswände: «Vanessa, wir glauben dir.» Doch nun haben Kouchners Enthüllungen die Wut zum Überkochen gebracht.
Schätzungsweise zehn Prozent Frankreichs sind Opfer von Inzest
Im Netz teilten zuletzt zahlreiche Opfer unter dem Schlagwort #MetooInceste ihre Missbrauchserfahrungen innerhalb ihrer Familien. Sie berichteten von Schuldgefühlen und Machtlosigkeit. Einer Schätzung des Umfrageinstituts Ipsos zufolge sind zehn Prozent der Menschen im Land Opfer von Inzest. Die Mehrheit der Opfer sind laut der Umfrage Frauen. Die aktuellen Vorwürfe treffen bekannte Schauspieler genauso wie Politiker. Sie beschäftigen mittlerweile auch die Justiz.
Im Fokus der Debatte steht auch eine gesetzliche Regelung, die es möglich macht, dass Volljährige nach Sex mit Minderjährigen milde bestraft oder gar freigesprochen werden. Das ist möglich, weil das Gesetz in Frankreich bei sexuellen Handlungen mit unter 15-Jährigen eine Zustimmung des Kindes als entlastenden Faktor berücksichtigt. Zu beurteilen, ob der oder die Minderjährige in der Lage gewesen sei, in die sexuelle Beziehung einzuwilligen, obliegt den Gerichten.
Das will Frankreichs Regierung nun ändern und ein sogenanntes Schutzalter einführen. «Ein Akt der sexuellen Penetration, der von einem Erwachsenen an einem Minderjährigen unter 15 Jahren durchgeführt wird, wird als eine Vergewaltigung gewertet werden», stellte Frankreichs Justizminister Eric Dupond-Moretti jüngst klar. Es gebe eine Wende in der Gesellschaft – das Gesetz müsse dahingehend geändert werden. Zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron Druck gemacht.
Das Schweigen hat ein Ende
«Die Opfer haben die Kraft und den Mut gefunden, der Gesellschaft die Augen zu öffnen. Nun können Sie, welche die Gesetze machen, nicht die Einzigen bleiben, die die Augen teilweise verschliessen», heisst es in einem offenen Brief an die Regierung. Prominente wie Sängerin Carla Bruni, Schauspielerin Juliette Binoche und Fussball-Nationaltrainer Didier Deschamps haben dieses Schreiben unterzeichnet. Ihnen gehen die Versprechungen der Regierung nicht weit genug. «Wir können uns nicht mit Ihren kleinen Fortschritten zufrieden geben. Dafür sind unsere Erwartungen viel zu hoch.»
Doch der Aufschrei in Frankreich geht über das bisherige Tabuthema Inzest hinaus. Zuletzt berichteten Studentinnen von sexualisierter Gewalt an der Elite-Hochschule Sciences Po. Sie gilt im Land als «Hochschule der Macht» – Macron gehört ebenso zu den Absolventen wie Topmanager der Wirtschaft. Unter dem Hashtag #SciencesPorcs – ein Wortspiel mit dem französischen Wort für Schwein (porc) – teilen sie ihre Erlebnisse.
Elite-Hochschule reagiert auf Vorwürfe
Die Studentinnen prangern sexistisches Verhalten und sexuelle Gewalt, einschliesslich Vergewaltigung, an. Sie werfen der Univerwaltung vor, die Täter – Studenten oder Professoren – zu schützen.
Bisherige Massnahmen seien offenbar nicht ausreichend gewesen, reagierte nun etwa die Sciences Po in Strassburg. «In der Tat muss das Schweigen gebrochen werden. Diese Tatsachen werden keineswegs auf die leichte Schulter genommen.» Die Wut im Land hält an. (SDA)