Die Blockade im Suezkanal gibt dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (67) Auftrieb für den Bau eines gigantischen Kanals bei Istanbul. Zwischen dem Schwarzen Meer im Norden und dem Marmarameer im Süden soll – westlich zum Bosporus – eine 45 Kilometer lange Wasserstrasse quer durchs Land gebaut werden.
Der «Kanal Istanbul» soll sich mitten durch die 16-Millionen-Metropole schlängeln und nach Karaburun führen. Die Kosten werden auf gegen 15 Milliarden Franken geschätzt, das ist etwas mehr als die 12 Milliarden, die der Gotthard-Basistunnel verschlungen hat.
Entwicklungspläne genehmigt
Am Samstag, als im Suezkanal immer noch das 400 Meter lange, auf Grund gelaufene Containerschiff «Ever Given» die Durchfahrt versperrte, verkündete der türkische Umweltminister Murat Kurum (45), dass die Entwicklungspläne genehmigt worden seien. «Wir werden rasche Schritte unternehmen, um unser Land und unsere heilige Stadt mit dem Kanal Istanbul zu bereichern», schrieb Kurum auf Twitter.
Die Regierung bezog sich denn auch auf das Suez-Desaster: Der Kanal werde auf der Bosporus-Strasse, einer der verkehrsreichsten Passagen der Welt, den Schiffsverkehr erleichtern und Unfälle wie jene im Suezkanal verhindern. Einst war die Rede davon, dass der Kanal im Jahr 2023 zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Türkei fertiggestellt sein sollte.
Angst vor Umweltkatastrophe
Doch das gigantische Bauprojekt stösst auf massive Gegenwehr. Einer der grössten Kritiker ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu (50) von der sozialdemokratischen CHP. Er sagte, es sei verrückt, so viel Geld für den Kanal auszugeben, während die Türkei mit der Corona-Krise zu kämpfen hat.
Massiv sind auch die Bedenken zum Umweltschutz. 40 Wissenschaftler haben an einer Experten-Konferenz in Istanbul verheerende Auswirkungen prognostiziert. Sie befürchten, dass gegen 400’000 Bäume gefällt, Fauna und Flora zerstört würden und es zu einer Trinkwasserknappheit kommen könnte.
Erhöhtes Risiko durch Erdbeben
Haluk Eyidogan, Professor für Geophysik an der Technischen Universität in Istanbul, warnt zudem vor einem erhöhten Erdbeben-Risiko: «Die zentrale Marmara-Verwerfung ist nur rund zwölf Kilometer vom geplanten Kanal entfernt. Es wird damit gerechnet, dass es im Istanbuler Raum in den nächsten 30 Jahren zu einem Erdbeben mit einer Mindeststärke von 7,0 kommen könnte.»
Am geplanten Kanal, direkt in der Nähe der Verwerfungen, werden neue Siedlungen mit rund einer halben Million Menschen entstehen. Eyidogan: «Das Risiko für die Menschen wird sich erheblich erhöhen.»
Der Ökologe Derin Orhon von der Universität des Nahen Ostens verweist zudem darauf, dass der Kanalbau die Durchfahrt von Schiffen nicht erleichtern würde. Die Kanaltiefe soll bei 25 Metern liegen – das reiche nicht für die Durchfahrt von Fracht- und Öltankschiffen, so Orhon. Das Projekt sei eine reine «Fehler-Komödie».
Freie Fahrt auch für Kriegsschiffe
In den vergangenen 90 Jahren ist die Anzahl der Durchfahrten durch den Bosporus von täglich 13 auf 255 gestiegen. Gleichzeitig haben auch Grösse der Schiffe und Lademenge massiv zugenommen. Mehrere Male kam es zu verheerenden Unglücken mit Tankern, die schwere Schäden anrichteten.
Ein zweiter Durchgang am Bosporus würde aber auch Erdogans Expansionsplänen dienen. Der Präsident will aus seinem Land ein neues osmanisches Reich schaffen und die Seegebiete gegen den Willen der Nachbarn erweitern. Mit einem zweiten Wasserweg an der Grenze von Europa und Asien wäre er mit seiner Kriegsflotte viel mobiler.