Bislang gab es einzelne Drohnen- und auch Raketenangriffe auf Ziele innerhalb Russlands. Die Ukraine hat auch Saboteure im Feindesland, die als Partisanen Anschläge auf russische Infrastruktur verüben – auf Eisenbahnlinien, Stromleitungen, Transporte. Doch am Montag ereignete sich etwas, das es im mittlerweile 15-monatigen Krieg noch nicht gegeben hat. Anti-Putin-Einheiten aus der Ukraine überschritten am Morgen die russische Grenze bei Belgorod, attackierten einen Grenzposten und nahmen offenbar mehrere Ortschaften ein. Einen ihrer US-MRAP-Schützenpanzer liessen sie beim Abzug zurück. Dagegen kaperten die Partisanen einen russischen BTR-82-Radschützenpanzer aus noch sowjetischer Zeit.
Zu den Aktionen haben sich zwei russische Verbände bekannt: die Legion Freies Russland und das Russische Freiwilligenkorps. Die Legion besteht aus Überläufern der russischen Streitkräfte sowie anderen russischen und belarussischen Freiwilligen, die nicht den ukrainischen Streitkräften angeschlossen sind.
In einer Erklärung riefen die Legionäre die Bevölkerung von Belgorod dazu auf, keinen Widerstand zu leisten und keine Angst zu haben: «Wir sind dieselben Russen wie ihr. Wir unterscheiden uns nur dadurch, dass wir die Handlungen der Kriminellen an der Macht nicht länger rechtfertigen wollten und zu den Waffen griffen, um unsere und eure Freiheit zu verteidigen», so die in sozialen Medien verbreitete Erklärung. «Aber heute ist es an der Zeit, dass jeder die Verantwortung für seine Zukunft übernimmt. Es ist an der Zeit, der Diktatur des Kremls ein Ende zu setzen.»
Kiewer Ablenkungsmanöver
Russische Medien verurteilen die Attacken als Kiewer Ablenkungsmanöver, um von dessen Bachmut-Waterloo abzulenken. Die Nachrichtenagentur Ria Novosti spricht vom Versuch Kiews, den Verlust von Bachmut zu vertuschen. Moskau beschuldigt Terroristen. Schnell wurde in Belgorod ein Regime zur Terrorismusbekämpfung ausgerufen, sprich: die Aufhebung von Zivilrechten mit der strikteren Überwachung von Bürgern. Dies teilte Wjatscheslaw Gladkow (54), Gouverneur der Oblast, auf Telegram mit.
Russische Propagandisten sprachen von mehreren Toten. Gladkow dagegen will bloss ein paar Verletzte bestätigen. Ein Video zeigt einen verletzten russischen Offizier, der mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache liegt, während russische Pässe und andere Dokumente auf dem Boden verstreut sind. Laut Gladkow konnten bis Einbruch der Nacht die meisten Eindringlinge von russischem Boden vertrieben werden. Berichte über Gefangene oder Partisanen, die sich weiterhin im Gebiet verschanzen, gab es zunächst keine. In der Nacht auf Dienstag wurden indes weitere Explosionen im Gebiet gemeldet, darunter auch ein Drohnenangriff auf das Gebäude des Innenministeriums in Belgorod.
Der Kreml beschuldigt eine ukrainische Sabotagegruppe für die Angriffe. Dmitri Peskow (55), Sprecher des über die Vorfälle unterrichteten Kriegspräsidenten Wladimir Putin (70), sprach von genügend Truppen und Kriegsgerät vor Ort, um die Saboteure zu bekämpfen. Peskow: Ziel des Sabotageangriffs sei es, «die Aufmerksamkeit von Bachmut abzulenken und die politischen Auswirkungen des Verlustes des Gebietes durch die ukrainische Seite auf ein Minimum zu beschränken».
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Putins Kampf an zwei Fronten
Bereits im März hatte es beim russischen Brjansk einen ähnlichen Vorfall mit einer ukrainischen Miliz gegeben. Damals war es ein Einzelschlag, am Montag dagegen schien der Krieg in Russland angekommen. Eine mögliche Strategie Kiews: Wenn die Russen Truppen auf heimischem Boden zu massieren haben, werden wichtige Kräfte gebunden, die in der Ukraine fehlen.
Die offizielle Ukraine gibt sich zu den Attacken bedeckt. Präsident Wolodimir Selenski (45) hat wiederholt erklärt, auch Ziele innerhalb Russlands seien zwar legitim, doch sein Land habe nicht die Absicht, russisches Territorium zu attackieren. Die Offensive diene dazu, «die unrechtmässig eroberten Gebiete zurückzuerobern», sagte er unlängst in Berlin.
Doch je länger der Krieg dauert, desto nachhaltigere Wirkungen entfaltet er auch auf die russische Gesellschaft. Beim Einmarsch am 24. Februar letzten Jahres hatte sich Moskau für unbesiegbar gehalten. Seither haben es die Ukrainer geschafft, in einem zunehmend demoralisierten Russland immer wieder Panik zu verbreiten und die Moral der Russen zu untergraben. Störaktionen wie der Grenzübertritt am Montag sind wohl einer der Offensivpläne Kiews, um den Druck auf Putin zu erhöhen. Dies, während das Kreml-Regime auch wachsenden Widerstand im eigenen Land mit allen Kräften niederzuschlagen hat. Über Moskau wurde eben die verbotene weiss-blau-weisse Flagge des freien Russlands gesichtet. Putin kämpft nicht nur an der Ukraine-Front. (kes)