Der 15. August 2021 war für Afghanistan ein schwarzer Tag. Nach dem überhasteten Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten gelang es den Taliban überraschend schnell, die Macht an sich zu reissen. Zwar beteuerten sie, Menschenrechte einzuhalten und gegen den Terrorismus anzukämpfen. Gehalten haben sie die Versprechen aber nicht.
Die Nationale Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) versucht seither, die Taliban zu vertreiben und einen Rechtsstaat zu bilden. Blick sprach mit deren Chef für Aussenbeziehungen, Ali Maisam Nazary (32), der in Washington international die Fäden zieht und sich zurzeit in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe aufhält.
Herr Nazary, seit die Taliban vor genau einem Jahr die Macht übernommen haben, hört man nicht mehr viel über Afghanistan. Hat sich die Lage beruhigt? Haben die neuen Machthaber alles unter Kontrolle?
Ali Maisam Nazary: Überhaupt nicht. Die Massaker haben nie aufgehört. Statt Frieden und Stabilität zu bringen, haben die Taliban das Land in eine humanitäre und wirtschaftliche Krise gestürzt. Ein Gesundheitssystem gibt es nicht mehr. Sie selber haben sich in mehrere Gruppen aufgespalten und schwächen sich gegenseitig.
Ali Maisam Nazary (32) ist Chef für Aussenbeziehungen der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) und Berater von Kommandeur Ahmad Massoud (33). Er studierte Politwissenschaften in Los Angeles und an der London School of Economics. Am 18. August 2021, drei Tage nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban, trennten sich die führenden Köpfe, um den Widerstand zu organisieren: Während Nazary von Washington D.C. aus weltweit die Fäden des Widerstands zieht, kämpft Massoud in Afghanistan an verschiedenen Fronten gegen die Taliban. (gf)
Ali Maisam Nazary (32) ist Chef für Aussenbeziehungen der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) und Berater von Kommandeur Ahmad Massoud (33). Er studierte Politwissenschaften in Los Angeles und an der London School of Economics. Am 18. August 2021, drei Tage nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban, trennten sich die führenden Köpfe, um den Widerstand zu organisieren: Während Nazary von Washington D.C. aus weltweit die Fäden des Widerstands zieht, kämpft Massoud in Afghanistan an verschiedenen Fronten gegen die Taliban. (gf)
Die Taliban haben versprochen, dass weiterhin auch Mädchen die Schule besuchen dürften.
Sie haben keines ihrer vielen Versprechen gehalten. Die Frauen wurden aus dem öffentlichen Leben weggewischt, sie können weder arbeiten noch sich ausbilden. Viele Frauen werden entführt und auf internationalen Märkten verkauft. Je mehr der Westen auf Menschenrechte drängt, desto aggressiver führen sich die Taliban auf.
Wie viele Afghanen sind aus dem Land geflohen?
Über 700'000. Die Taliban benützen sie als Druckmittel gegen den Westen, um Unterstützung zu erhalten.
Vor wenigen Tagen haben die Amerikaner mit einer Drohne den Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri in Kabul getötet. Haben Sie den USA geholfen, ihn zu finden?
Nein, wir waren nicht beteiligt. Wir wussten aber, dass er im Land war.
Wie wichtig ist dieser Schlag gegen die Al Kaida?
Er bedeutet überhaupt kein Ende der Terrororganisation. Er zeigt aber, wie verbandelt Al Kaida mit den Taliban ist und wo ihre Wurzeln sind: Aiman al-Sawahiri lebte im Diplomatenquartier, nur gerade eine Meile vom ehemaligen Präsidentenpalast entfernt.
Wie präsent und aktiv ist Al Kaida heute in Afghanistan?
Seit der Machtübernahme der Taliban sind über tausend Al-Kaida-Mitglieder ins Land gekommen. Die Taliban haben ihnen viele Schlüsselstellen, darunter Gouverneursposten, übergeben. Sie werden in mehreren Camps in Terrorismus ausgebildet und mit Waffen, die aus dem Westen stammen, ausgerüstet. Sie sind heute stärker denn je.
Glauben Sie, dass Al Kaida neue Anschläge im Ausland vorbereitet?
Die Taliban rüsten die Dschihadisten mit Pässen und Ausweisen aus. Wozu wohl? Damit sie andere Länder infiltrieren können. Wenn der Westen diese Entwicklung weiterhin ignoriert, drohen Konsequenzen wie bei 9/11. Das Ziel der Terroristen ist und bleibt der Kampf gegen Ungläubige.
Wie äussert sich die Präsenz des IS?
Er macht sich immer wieder mit Anschlägen bemerkbar, wie vor wenigen Tagen, als es mehrere Tote gab. Er ist aber eine kleine Minderheit.
Sie sind Berater und ein enger Freund des bekannten Widerstandskämpfers Ahmad Massoud. Wie kommt der Widerstand voran?
Vor einem Jahr starteten wir in zwei der 34 Provinzen. Heute sind wir in zwölf präsent und haben sechs davon unter Kontrolle. Im Norden haben wir alle Kämpfe gegen die Taliban gewonnen, sie haben grosse Verluste erlitten.
Vor einem Jahr spann die abgesetzte Regierung im Exil die Fäden. Was ist aus ihr geworden?
Es gibt keine Regierung mehr. Der ehemalige Vizepräsident Amrullah Saleh ist heute Seniormember des Widerstands.
Bekommen Sie für den Widerstand Unterstützung?
Nein, kein Staat hilft uns.
Sehen Sie keine Möglichkeit darin, mit den Taliban die Zusammenarbeit zu suchen?
Nicht, solange die Taliban den Terrorismus unterstützen, Massaker anrichten und sich an keine Menschenrechte halten. Wir wollen eine Demokratie mit Wahlen. Erst wenn sie das akzeptieren, sind wir offen für Verhandlungen.
Wie sieht Ihre Lösung aus?
Man darf, wie in Syrien und im Irak, Terroristen nicht anerkennen, sondern muss sie eliminieren. Wir werden kämpfen, bis wir Afghanistan befreit haben.
Wann wird das so weit sein?
Die Taliban sind geschwächt und an mehreren Orten auf dem Rückzug. Ihr Ende wird schon bald kommen.