Wie konnten die Taliban Afghanistan so schnell einnehmen?
Seit Anfang Mai ziehen die USA und die Nato ihre Streitkräfte aus Afghanistan ab. Gleichzeitig bringen die Taliban immer grössere Teile des Landes unter ihre Kontrolle. Im August dann fällt eine Provinzhauptstadt nach der anderen. Der Feldzug gipfelt in Kabul.
Kampflos gibt das Militär ihre Waffen und Rüstungen den unterlegenen Taliban ab. «Seitens der Armee war kein Engagement vorhanden, die Eroberung zu stoppen», fasst Nahost-Experte Erich Gysling (85) die Situation zusammen. «Die Soldaten wollen der Regierung gegenüber gar nicht loyal sein.»
Das afghanische Volk fühle sich schon seit Jahren benachteiligt. Die Gelder der westlichen Staaten in Billionenhöhe kamen einer kleinen Minderheit zugute.
Laut eines Berichts der Zeitung «Al Dschasira» leben 72 Prozent der Bevölkerung in Armut. Nur etwa 55 Prozent der Männer können lesen und schreiben, bei den Frauen sind es weniger als 30 Prozent. Gysling: «Viele Afghanen erhoffen sich mit den Taliban mehr Gerechtigkeit und ein Ende der Korruption im Land.»
Was droht jetzt Frauen, Kindern, Kollaborateuren?
Die Taliban praktizieren eine «Steinzeit-Vorstellung» des Islams, für sie gelten strengste Scharia-Gesetze. Demnach werden Dieben beispielsweise einzelne Finger oder die ganze Hand abgehackt. Verrätern oder Homosexuellen droht der Tod – unter anderem durch öffentliche Hinrichtungen oder Steinigungen.
Erich Gysling sieht besonders die Angestellten der US- und Nato-Truppen in Gefahr. «Übersetzer zum Beispiel fürchten nun um ihr Leben – und das zu Recht.»
Auch die Rechte der Frauen und Mädchen dürften unter der Herrschaft der Taliban stark beschnitten werden. Zwar versprach die Gruppierung, dass Mädchen beispielsweise weiterhin zur Schule gehen dürften. «Doch es stellt sich die Frage, welche sie besuchen und was sie dort überhaupt lernen dürfen.»
Als die islamistische Gruppierung zuletzt an der Macht war, durften sie das Haus nur noch mit Burka verlassen, in der Öffentlichkeit nicht mehr sprechen und nicht mehr arbeiten. Ihnen war der Kontakt zu Männern verboten, die nicht blutsverwandt oder angeheiratet waren.
Haben die USA und die Nato versagt?
Fast zwei Jahrzehnte lang waren die Streitkräfte der USA und die Nato-Truppen in Afghanistan in Einsatz. «Sie versprachen Freiheit und Demokratie», sagt Gysling. «Doch in den letzten Jahren sind im Krieg gegen die Taliban viele Zivilisten ums Leben gekommen.» Die Stimmung der Bevölkerung habe sich deshalb zunehmend gegen die westlichen Streitkräfte gewandt.
Der Experte sieht den Fehler aber nicht in der Kriegsführung der letzten Jahre. Viel mehr sei die Situation von Anfang an nicht lösbar gewesen. «Die USA und die Nato glaubten, der Boden in Afghanistan wäre fruchtbar für die demokratischen Werte im westlichen Sinn.» Gesellschaftliche Werte wie Religion, Stammesloyalität und Traditionen seien dabei unterschätzt worden. Gysling: «Die Vorstellung einer Demokratie in Afghanistan war an sich ein Irrtum.»
Droht nun eine Flüchtlingswelle?
Aktuell befinden sich innerhalb Afghanistans 2,6 Millionen Menschen auf der Flucht. Über zwei Millionen Afghanen sind in die Nachbarländer Pakistan und Iran geflüchtet, manche von ihnen schliesslich weiter nach Europa. «Die bestehende Fluchtbewegung dürfte sich nun verstärken», sagt der Nahost-Experte. Das dürfte auch in der Schweiz spürbar sein.
Wie sind die Taliban organisiert?
Die Taliban wollen in Afghanistan ein rigides islamistisches System etablieren, nach ihrer radikalen und konservativen Vorstellung des Islam. In vielen Provinzen bildeten die Taliban eine Art Parallelregierung und setzte die Scharia-Gesetze bereits um – inoffiziell.
Die Gruppierung ist hierarchisch organisiert, wie sie selbst sagt. Im Zusammenhang mit der Führung tauchen unterschiedliche Namen auf. Während der Übernahme in Kabul geriet einer der Taliban-Führer zunehmend ins Rampenlicht: Mullah Abdul Ghani Baradar (53) gilt als Nummer zwei der Taliban, er soll am Sonntag von Doha nach Kabul gereist sein, um die Regierungsbildung zu unterstützen. Gemäss Gerüchten könnte Baradar der nächste Präsident Afghanistans werden.
Sind die Schweizer in Sicherheit?
Am vergangenen Freitag befanden sich noch drei Schweizer Bundesangestellte in Kabul. Sie sind Mitarbeiter des dortigen Koordinationsbüros der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Eine Sprecherin des EDA bestätigte am Sonntag gegenüber Blick, man habe das Büro wegen der aktuellen Lage in Afghanistan geschlossen.
Die Mitarbeiter würden evakuiert, der Bund habe entsprechende Massnahmen getroffen. Neben den drei Schweizer Angestellten sollen auch die 40 lokalen Mitarbeiter des Deza-Büros und ihre Kernfamilien in die Schweiz fliegen dürfen. Die insgesamt 200 Personen erhalten ein humanitäres Visum. Für wann die Evakuierung geplant ist, will das EDA aus Sicherheitsgründen nicht bekannt geben.
Die Schweiz setzt Rückführungen nach Afghanistan «wegen der veränderten Situation im Land bis auf weiteres aus», wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) am Mittwoch mitteilte. Es würden auch keine neuen Wegweisungen verfügt. Einzig bei straffälligen Personen würden die Vorbereitungen für eine Rückführung weitergeführt. Afghanistan hatte die Schweiz bereits Anfang Juli gebeten, Rückführungen von abgewiesenen Asylbewerbern wegen des Vormarsches der Taliban und wegen der Corona-Pandemie während dreier Monate aufzuschieben.
Die Schweiz setzt Rückführungen nach Afghanistan «wegen der veränderten Situation im Land bis auf weiteres aus», wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) am Mittwoch mitteilte. Es würden auch keine neuen Wegweisungen verfügt. Einzig bei straffälligen Personen würden die Vorbereitungen für eine Rückführung weitergeführt. Afghanistan hatte die Schweiz bereits Anfang Juli gebeten, Rückführungen von abgewiesenen Asylbewerbern wegen des Vormarsches der Taliban und wegen der Corona-Pandemie während dreier Monate aufzuschieben.