Feldzug der Islamisten
Taliban stehen wenige Kilometer vor Kabul

Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis Kabul zurück in die Gewalt der Taliban fällt. Afghanistans Führung gibt sich kämpferisch, doch ausländische Truppen haben das Land verlassen. Botschaften evakuieren und letzte Ausländer fliehen, darunter auch Schweizer.
Publiziert: 15.08.2021 um 00:43 Uhr
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Aktualisiert: 15.08.2021 um 09:06 Uhr
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Diplomaten und Ausländer fliehen ausser Landes: Afghanistans Hauptstadt Kabul bereitet sich auf den Einmarsch der Taliban vor.
Foto: Keystone
Sven Zaugg

Es ist nur noch ein Frage von Tagen, bis die selbst ernannten Gotteskrieger nach 20 Jahren erneut die Macht in ganz Afghanistan übernehmen. Dem lokalen Nachrichtensender Tolo zufolge sollen die Taliban bereits in den Distrikt Char Asiab vorgedrungen sein – nur elf Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul. Damit ist auch die letzte Bastion der Regierungstruppen umstellt.

Auf ihrem Eroberungsfeldzug haben die Islamisten mehr als die Hälfte der 34 Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht. Zehntausende fliehen vor den Fundamentalisten.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärte sich höchst besorgt über die Auswirkungen des Konflikts auf Frauen und Mädchen. Rund 80 Prozent der knapp 250'000 Afghaninnen und Afghanen, die seit Ende Mai zur Flucht gezwungen wurden, sind Frauen und Kinder.

Präsident Aschraf Ghani (72) kündigte derweil eine «Remobilisierung» der Streitkräfte an. Dies habe «oberste Priorität», sagte er am Samstag in einer Fernsehansprache. Mit höchster Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei allerdings um wenig mehr als einen frommen Wunsch.

Auch Schweiz reagierte auf dramatische Entwicklung

Die afghanische Armee – auf dem Papier 300'000 Uniformierte – ist in desolatem Zustand. Im Norden des Landes ergaben sich ganze Einheiten teilweise kampflos; sie überliessen den Taliban sogar Fahrzeuge und Waffen. Militärbeobachter sehen kaum Chancen für eine Gegenoffensive.

Während der Widerstand der Regierungstruppen bröckelt, bemühen sich westliche Staaten fieberhaft, Landsleute und einheimisches Botschaftspersonal in Sicherheit zu bringen. Die US-Regierung hatte angekündigt, dafür vorübergehend rund 3000 Soldaten zu entsenden. Grossbritannien detachiert aus dem gleichen Grund etwa 600 Soldaten nach Kabul.

Auch die Schweiz reagiert auf die dramatische Entwicklung und hat die Evakuierung ihres diplomatischen Personals angeordnet. Sechs Mitarbeitende der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) werden ausgeflogen.

Taliban für afghanische Bevölkerung ist ein Albtraum

Die rund 40 lokalen Deza-Mitarbeitenden in Afghanistan und ihre Kernfamilien werden ebenfalls in die Schweiz fliegen. Sie erhalten humanitäre Visa. Es dürfte sich insgesamt um 200 Personen handeln, erklärte Mario Gattiker (64), Staatssekretär beim Staatssekretariat für Migration am Freitag vor den Medien in Bern.

Für die afghanische Bevölkerung ist die Aussicht auf eine abermalige Herrschaft der Taliban ein Albtraum. Als sie von 1996 bis 2001 regierten wurde eine strenge Auslegung des islamischen Rechts eingeführt, die Scharia. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen.

Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet. UN-Generalsekretär António Guterres (72) sprach am Freitag von «entsetzlichen» Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Gebieten, die nun wieder von den Taliban kontrolliert werden.

Der Appell der Nato, allen voran der USA, die Taliban sollten den Vormarsch stoppen, Vernunft annehmen und eine politische Lösung suchen, wirken da beinahe absurd. Washington muss seine Mission in Afghanistan als gescheitert betrachten: 20 Jahre nach dem Beginn der US-Militäroffensive mit Unterstützung Grossbritanniens am 7. Oktober 2001 liegt das Land in Schutt und Asche. Und bald regieren wieder die Taliban.

Schweiz stoppt Rückführungen nach Afghanistan

Die Schweiz setzt Rückführungen nach Afghanistan «wegen der veränderten Situation im Land bis auf weiteres aus», wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) am Mittwoch mitteilte. Es würden auch keine neuen Wegweisungen verfügt. Einzig bei straffälligen Personen würden die Vorbereitungen für eine Rückführung weitergeführt. Afghanistan hatte die Schweiz bereits Anfang Juli gebeten, Rückführungen von abgewiesenen Asylbewerbern wegen des Vormarsches der Taliban und wegen der Corona-Pandemie während dreier Monate aufzuschieben.

Die Schweiz setzt Rückführungen nach Afghanistan «wegen der veränderten Situation im Land bis auf weiteres aus», wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) am Mittwoch mitteilte. Es würden auch keine neuen Wegweisungen verfügt. Einzig bei straffälligen Personen würden die Vorbereitungen für eine Rückführung weitergeführt. Afghanistan hatte die Schweiz bereits Anfang Juli gebeten, Rückführungen von abgewiesenen Asylbewerbern wegen des Vormarsches der Taliban und wegen der Corona-Pandemie während dreier Monate aufzuschieben.

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