Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet ein
Müssen wir das Glück über unser Land mit allen anderen teilen?

Eine Welt à la carte – das geht nicht, schreibt Wirtschaftsexperte Werner Vontobel.
Publiziert: 25.05.2024 um 10:33 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2024 um 21:11 Uhr
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Werner Vontobel ist Wirtschaftsexperte. Für Blick ordnet er aktuelle Geschehnisse in der Wirtschaft ein.
Foto: Sobli
Werner Vontobel

Tunesien ist ein typisches Beispiel. Diesem Land fehlt es – im Vergleich zu uns – an fast allem: Schulen, Nahrung, Verkehrswege, Abfallentsorgung etc. Es wäre viel zu tun. Dennoch ist ein Drittel der jungen Tunesier ohne Arbeit. Tunesien ist eines der vielen Völker, die nicht mehr in der Lage sind, sich so zu organisieren, dass sie den eigenen Bedarf decken können. Auch der Versuch, sich in die globale Wert(ab)schöpfungskette einzugliedern, ist mässig erfolgreich: Olivenöl, Textilien, Schuhe, ein paar Rohstoffe und vor allem Tourismus. Der Durchschnittslohn von umgerechnet etwa 300 Franken zeigt, dass sich Tunesien billig verkauft oder verkaufen muss.

Die Touristenströme – und das Internet – führen vor allem den jungen arbeitslosen Tunesiern ständig vor Augen, dass es Länder gibt, in denen man 20-mal mehr verdienen, und mit den Ersparnissen die Angehörigen zu Hause versorgen könnte. Gut 10 Prozent der Haushaltseinkommen entfallen auf Geldüberweisungen von Auslandstunesiern. Für viele Zurückgebliebene ist das sogar die wichtigste Einkommensquelle. Daraus ist eine riesige Schlepper-Industrie entstanden. Rund 200 «Firmen» haben allein im laufenden Jahr bisher schon rund 40'000 «Kunden» bedient und dafür umgerechnet je 1700 bis 2000 Franken kassiert. Rechne.

Der Blick hat vor Ort recherchiert und mit Betroffenen gesprochen. Fazit: Unter diesen – kurzfristig nicht zu ändernden – Bedingungen hätten wir wahrscheinlich auch versucht, uns in die reiche Schweiz abzusetzen. Zumal wir Schweizer längst auch zu Standortoptimieren geworden sind. Auch wir leben immer mehr in einer Welt à la carte, in der es keine Heimat mehr gibt, sofern nur noch Standorte: Wir zügeln in steuergünstige Gemeinden, oder ziehen von dort weg, wenn die reichen Zuzüger die Mieten steigen lassen. Unsere Rentner wandern nach Portugal, Marokko oder Thailand aus, weil ihre AHV dort mehr Kaufkraft hat. Und auch wir haben unsere «Schlepper-Organisationen» wie etwa die Greater Zurich Area Ltd., die reichen Firmen und Privatpersonen die Übersiedlung in die Schweiz erleichtern.

Schweizer Profiteure der Hyperglobalisierung

Das wirft eine heikle Frage auf: Haben wir, die wir das Glück hatten, hier geboren zu sein, das moralische Recht, den andern den Zutritt zu unserem Paradies zu verwehren? Darauf gibt es eine pragmatische und zugleich egoistische Antwort: Tun wir es nicht, ist auch unser Paradies bald keines mehr und damit wäre auf Dauer niemandem gedient. Auch global gesehen ist es nicht sinnvoll, dass immer mehr Menschen von den Gegenden, in denen es viel zu tun gäbe, dorthin reisen, wo die meiste Arbeit bereits gemacht ist, wo alles schon geputzt und geschniegelt ist und wo die Vollbeschäftigung nur noch mit Luxuskonsum einigermassen aufrechterhalten werden kann.

Natürlich bringen auch die Arbeitsmigranten und vor allem die Steueroptimierer ihre eigene Arbeit mit. Sie wollen hier wohnen, sich verpflegen, gepflegt werden, ihre Kinder in die Schule schicken etc. Unter dem Strich arbeiten wir alle für den eigenen Bedarf. Arbeit ist dort, wo die Menschen sind und ihre Bedürfnisse. So gesehen ist über alle Länder widersinnig und unökonomisch, wenn wir im Zuge des Standortwettbewerbs immer mehr Menschen und Arbeit in den Ländern konzentrieren, die noch nicht kaputt sind.

Mit jeder Arbeits- oder Fachkraft, die Tunesien, Algerien, Süditalien, Rumänien etc. verlässt, sinkt die Chance, dass sich diese Gebiete wirtschaftlich entwickeln können. Es ist deshalb auch in deren Interesse, dass wir die Anreize zur Einwanderung möglichst klein halten. Das richtet sich nicht nur gegen die Arbeitsmigranten, sondern heisst auch, dass wir damit aufhören sollten, anderen Ländern ihre guten Steuerzahler abzuluchsen. Mit jeder Million Steuergeld, die wir anderen Ländern abluchsen, steigt die Gefahr, dass diese Länder ihr öffentlichen Dienstleistungen nicht mehr finanzieren können – und noch mehr frustrierte Deutsche oder Portugiesen in die Schweiz auswandern.

Zumindest finanziell gesehen sind wir Schweizer Profiteure der Hyperglobalisierung. Umso mehr haben wir auch eine moralische Verantwortung für deren Schattenseiten.

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