Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet ein
Die grosse BIP-Lüge – für die Masse bleibt immer weniger

Ökonomen messen den Fortschritt daran, wie viel mehr produziert wird. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit: Viel wichtiger ist, wer was konsumieren kann.
Publiziert: 15:30 Uhr
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Aktualisiert: 19:04 Uhr
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Der Anteil der Reichen und Superreichen am steuerbaren Einkommen ist gewachsen.
Foto: GIANCARLO CATTANEO

Auf einen Blick

  • BIP-Wachstum allein reicht nicht für Wohlstand und Glück aus
  • Ungleiche Einkommensverteilung führt zu Luxuskonsum und sozialen Problemen
  • Anteil des reichsten Prozents am steuerbaren Einkommen stieg auf 12,6 Prozent
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Werner Vontobel

Ein steigendes Brutto-Inlandsprodukt (BIP) gilt allgemein als der Massstab, an dem wir unsere Wirtschaftspolitik messen. Das ist nicht sehr ehrgeizig. Das Ziel muss das grösstmögliche Glück der grösstmöglichen Zahl sein. Dieses hängt zwar auch davon ab, wie viel produziert wird (BIP), wichtiger aber, was davon konsumiert werden kann, und wie der konsumierbare Teil des BIP verteilt wird.

Und nicht zuletzt hängt unser Glück auch davon ab, wie produziert wird. Arbeit kann Freude machen, sie kann uns aber auch frustrieren und verblöden.

Das Problem mit dem BIP fängt damit an, dass immer weniger davon konsumierbar ist. Wir verwenden einen immer grösseren Teil der bezahlten (und somit BIP-relevanten) Arbeitszeit damit, die zunehmende Komplexität unserer Wirtschaft zu bewältigen. Das betrifft insbesondere den Finanzsektor, den Transport, die langen Arbeitswege und die damit verbundenen Ausgaben, die Werbung, den Handel mit Immobilien, die private und staatliche Arbeitsmarktbürokratie usw.

Immer mehr Luxuskonsum

Die gelernten Ökonomen machen keinen Unterschied zwischen Konsum und Komplexitätsbewältigung. Für sie ist einfach alles nur BIP oder BIP pro Kopf. Und dieses ist gemäss ihren Statistiken seit 2000 um 19 Prozent gewachsen. Das sind rund 750 Franken pro Kopf und Jahr.

Wie sich diese – leicht - gesteigerte Produktion auf das grösstmögliche Glück der grössten Zahl ausgewirkt hat, hängt vor allem von der Verteilung ab. Plakativ formuliert geht es um die Frage, wie viel Brot und wie viel Kaviar in unseren BIP steckt. Je einseitiger die Einkommensverteilung, desto grössere Teile des BIP werden für reinen Luxus- und Statuskonsum verschwendet.

Dass die Einkommensverteilung noch einseitiger geworden ist, zeigt ein Blick auf die einschlägige Statistik der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Danach ist der Anteil des reichsten Prozent am steuerbaren Einkommen seit 2003 von 10,5 auf 12,6 Prozent gestiegen. Die reichsten 20 Prozent haben ihren Anteil von 47,8 auf 52,1 Prozent erhöht – der Anteil der unteren 80 Prozent ist entsprechend gesunken.

Der Masse bleibt immer weniger

Übertragen auf das BIP-Wachstum pro Kopf bedeutet das im Grossen und Ganzen, dass die jährliche Zuwachsrate der Superrreichen um rund 11'000 Franken, die des oberen Fünftels Prozent um rund 2000 Franken, die der untern 80 Prozent aber nur um 400 Franken gestiegen sind.

Für die ärmere Hälfte blieben gar nur Zuwächse von null bis 200 Franken – pro Jahr. Also praktisch nichts. Die Kluft zwischen reich und arm ist somit seit der Jahrtausendwende noch einmal deutlich gestiegen – zumindest in Franken und Konsumkraft gerechnet.

Und das wiederum wirkt sich auf die Zusammensetzung des BIP aus. Zunächst einmal erfordern die sinkenden Einkommensanteile der unteren Hälfte noch mehr Umverteilung und eine entsprechende Bürokratie. Und zwar nicht nur vonseiten des Staates, sondern auch von den Reichen, die noch mehr Grund haben, sich gegen entsprechend höhere Steuern zu wehren. Und die dabei einen hohen Aufwand betreiben, etwa (teure) Steuerberater engagieren oder in steuergünstige Gemeinden umziehen. 

Steigende Mieten

Die sehr ungleiche Verteilung der Einkommenszuwächse bedeutet aber auch, dass nur ein sehr kleiner Teil das Glück der grossen Zahl vergrössert hat. Ein Teil davon wurde mit Luxuskonsum verschwendet und der Löwenanteil wurde gewinnbringend in Wertsachen investiert.

Nicht zuletzt in Wohnimmobilien, mit der Folge, dass die Bodenbesitzer die Mieter und Wohnungssuchenden zur Kasse bitten können. Normalverdiener zahlen heute schnell einmal jährlich 15'000 bis 20'000 Franken mehr Miete als vor 20 Jahren. Das ist eine – weitere – massive Umverteilung von unten nach oben, die allerdings in keiner Statistik ausgewiesen wird.

Ungleichheit verdirbt den BIP-Brei

Doch letztlich geht es nicht um Geld, sondern um das Gemeinschaftsgefühl, um das soziale Kapital. Dieses wird dadurch vernichtet, dass die Beute viel zu einseitig verteilt wird. Sozialwissenschafter haben es in Hunderten von Studien bewiesen: Je ungleicher die Einkommensverteilung, desto kränker, krimineller, konsumsüchtiger, einsamer und übergewichtiger ist die Gesellschaft. Und umso mehr wird das BIP durch die hohen Kosten für Gesundheit, Sicherheit, Justiz etc. aufgebläht.

Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, sich in diesen Bereichen zu engagieren, denn mit Arbeit allein, kann man die Lücke zu den Reichen nicht schliessen. Dazu muss man entweder Immobilien erben, Finanz-Influencer werden, oder sein Geld auf die richtige der inzwischen über 10'000 Kryptowährungen setzen.

Der Brei ist verdorben. Bessere Köche braucht das Land.

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