Im grossen und verschachtelten Imperium der Migros fliesst der Alkohol eigentlich schon fast überall. Bier, Wein oder Schnaps gibt es bei der Discount-Tochter Denner, an den Tankstellenshops von Migrolino oder in den Voi-Läden der Migros-Partner. Selbst im Onlineshop lässt sich alles für eine feuchtfröhliche Feier bestellen.
Einzig im potentesten Vertriebskanal – den Supermärkten mit dem orangen M – gilt noch die Maxime des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler (1888–1962): kein Alkohol! Doch dieses Tabu könnte nun bald fallen. Denn am Samstag könnte an der Delegiertenversammlung Historisches geschehen.
Komplexer Prozess
Damit Genossenschafter und Kundinnen nicht völlig überrumpelt werden, hat das aktuelle «Migros-Magazin» («Es kommt Bewegung in die Alkoholfrage») schon mal einen Fahrplan aufgestellt, was noch alles passieren muss, damit auch in den Supermärkten Alkohol in den Regalen stehen könnte.
Dazu braucht es eine Statuten-Änderung. Diese erfolgt «in einem einzigartigen, demokratischen und komplexen Prozess, in den am Ende nicht weniger als 32 verschiedene Organe der Migros involviert sein könnten», wie die Migros ihren 2,3 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschaftern nicht ohne Stolz erklärt.
Die erste Weichenstellung findet am Samstag statt: Dann tagt die Delegiertenversammlung und befasst sich mit der Aufhebung des Alkoholverbots. Dies auf Antrag von fünf Delegierten und nach Zustimmung durch die MGB-Verwaltung.
Kein einfaches Geschäft
Dieser Antrag habe durchaus Chancen, sagt ein ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied der Migros zu Blick. Die Krux liege anderswo: Wie reagieren die Kunden, die auch wegen des Alkoholverbots bei der Migros einkaufen? Und woher soll die Kompetenz für den Alkoholverkauf kommen? Ein Geschäft, das zwar lukrativ, aber auch nicht einfach sei.
Kommt am Samstag eine Zweidrittelsmehrheit für die Aufhebung des Alkoholverbots zustande, dann liegt der Ball bei den zehn regionalen Genossenschaften. Deren Verwaltungen und Genossenschaftsräte müssen nun bis Anfang Dezember entscheiden, ob sie für die Aufhebung des Alkoholverbots sind.
Regionen entscheiden selber
Damit nicht genug der Abstimmungen: Nun sind die Genossenschafter an der Reihe. In einer Urabstimmung bestimmen die Migros-Eigentümer bis Anfang Juni 2022 über den Tabubruch. Allerdings nicht für den gesamten Migros-Genossenschaftsbund: «Nur in den Filialen von regionalen Genossenschaften, deren Mitglieder sich mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen für die Aufhebung des Verbots aussprachen, könnten nun alkoholische Getränke in die Regale kommen.»
Das heisst: Während zum Beispiel die Migros Ostschweiz abstinent bliebe, würde künftig in der Migros Waadt alles angeboten, was Promille enthält. Für die meisten Migros-Bosse und -Präsidenten war die Aufhebung des Alkoholverbots bisher tabu.
Einzig der Genfer Claude Hauser (79) dachte 2012 als Präsident der Migros-Verwaltung laut über den Verkauf von Alkohol nach. Ohne Erfolg. Nun könnte es in der Ära von Migros-Boss Fabrice Zumbrunnen (51) zum Tabubruch kommen – und der Alkohol bald auch in den Supermärkten des orangen Riesen fliessen.