Einmal sagt Marcel Bräuchi: «Mit Religion habe ich nichts am Hut. Ich glaube nur, was ich sehe.» Er hält inne. Lacht bitter. «Dass ausgerechnet ich das sage.»
Marcel Bräuchi (67), verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern, ehemaliger Inhaber einer Reinigungsfirma mit 15 Angestellten, hat über 250'000 Franken an Betrüger im Internet verloren. Sein ganzes Geld. Am Vormittag holt er den Beobachter-Journalisten noch mit seinem weissen Mercedes-SUV vom Bahnhof ab. Am Nachmittag gibt er den Wagen dem Garagisten zurück. Er muss, sonst kann er seine Rechnungen nicht bezahlen. Wie konnte das passieren? «Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, manchmal jede Minute», sagt Bräuchi.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Begonnen hat alles mit Roger Federer. Im Sommer 2022 liest Bräuchi auf Facebook ein angebliches «Blick»-Interview mit dem Tennisstar. Darin erzählt der Sportmilliardär von seinen Gewinnen mit Kryptowährungen. Eine bekannte Masche, um Leute auf dubiose Onlineplattformen zu locken. Marcel Bräuchi kennt sie nicht. Er ist seit zwei Jahren pensioniert, hat Zeit – und Geld. Seine Reinigungsfirma hat er verkauft, das Haus im Kanton Schwyz ebenfalls. Mit seiner Frau lebt er in einer Wohnung im Toggenburg oder in der Ferienwohnung im Wallis. Warum also nicht einmal ausprobieren, das mit diesem Krypto.
Gewinn auszahlen? Kein Problem
Bräuchi registriert sich auf der Internetplattform Crypto1Capital, die Roger Federer angeblich Glück gebracht haben soll, und zahlt 250 Dollar ein. Solche Summen hat er auch schon an lustigen Abenden im Casino verprasst. Auf der Kryptoplattform kann er live mitverfolgen, wie sein Gewinn steigt. Nach wenigen Wochen sind es über 1000 Dollar. Ein Berater, der sich Michael Pohl nennt, chattet fleissig über Whatsapp mit ihm, manchmal telefonieren sie auch. Der Kurs steigt und steigt. Als Bräuchi sich einen Teil seines Gewinns auszahlen lassen will, ist das kein Problem. Am nächsten Tag sind 1000 Dollar auf seinem Konto. Echtes Geld. Bräuchi ist begeistert und investiert weiter. Lässt sich nochmals 1000 Dollar ausbezahlen und investiert erneut. 37’000 Franken in einem Jahr. Sein angebliches Guthaben auf der Plattform: 230’000 Dollar.
Solche unrealistischen Gewinne müssten doch skeptisch machen. Hat Sie die Gier blind gemacht für Gefahren?
Ich glaube nicht. Ich würde mich nicht als gierigen Menschen bezeichnen. Die Gewinne haben mich eher fasziniert. Die Kryptoplattform sah sehr professionell aus.
Wie locker sitzt bei Ihnen das Geld?
Ich habe immer seriös gewirtschaftet. Wir haben aber schon gut gelebt in den letzten Jahren. Wir gingen auf Kreuzfahrten, kauften zwei Ferienwohnungen, die wir vermieten. Ich bin ein sozial eingestellter Mensch. Ich war immer grosszügig zu meinen Mitarbeitern. Und wenn ein Freund in Not ist, helfe ich.
Welche Rolle spielte Ihr angeblicher Berater?
Ich habe ihm vertraut. Wir haben immer wieder telefoniert, auch über Privates gesprochen. Wenn ich mal krank war, erkundigte er sich nach meinem Befinden, wünschte frohe Ostern, fragte nach meinem Hund. Und über Monate lief ja alles gut.
War Marcel Bräuchi naiv? Sicher. Aber bisher konnte er sich auf sein Gespür für Menschen verlassen. Als junger Mann arbeitete er als Versicherungsinspektor auf Provisionsbasis. «In einem Monat war ich firmenintern der beste Verkäufer in der ganzen Schweiz.» Später führte er einen Lebensmittelladen. Mit 31 machte er sich selbständig, gründete die Reinigungsfirma. Nur einen einzigen Kunden habe er in all den Jahren betreiben müssen. «Ich erkannte sofort, ob einer zahlen kann oder nicht.» 20 Jahre lang arbeitete er nebenbei als Friedensrichter. Warum lässt sich so jemand derart abzocken?
Ein «s» in der Adresse übersehen
Im Herbst 2023 wollte Bräuchi erneut eine Auszahlung. Dieses Mal eine grössere Summe. Plötzlich verlangt Crypto1Capital dafür eine Provision. 19 Prozent des Gewinns, über 37’000 Franken. Und diese Summe soll Bräuchi einzahlen, bevor er den Gewinn erhält. Er beschwert sich bei seinem Berater. Doch dieser redet ihm ein, das müsse so sein, warnt vor Verlusten, wenn sich der Prozess verzögere, schwadroniert über Compliance-Prüfungen und «Finanzfunktionalitäten». Also zahlt Bräuchi.
Doch das Geld landet nicht auf seinem Konto. Und plötzlich kann er sich dort auch nicht mehr einloggen. Er müsse ein anderes, neues Kryptokonto bei einem anderen Anbieter einrichten, heisst es nach wochenlangem Hin und Her. Also eröffnet Bräuchi ein sogenanntes Wallet, das es braucht, um Kryptowährungen zu speichern. Aber nichts passiert, das Wallet bleibt leer.
Der Support des neuen Anbieters meldet sich. Bräuchi übersieht dabei, dass dessen Adresse nicht «atomicwallet.io» lautet, sondern «atomicswallet.io», also ein zusätzliches «s» enthält. Der angebliche Support-Mitarbeiter sagt ihm am Telefon, er müsse fünf Bitcoins «freischalten», zum Kurs von je 30’000 Franken, dem damaligen Wert der Kryptowährung. Sein Berater Michael Pohl spielt zuerst den Vorsichtigen, sagt, er müsse das eingehend prüfen, man müsse aufpassen. Schliesslich gibt er grünes Licht. «Und ich Tubel habe nochmals gezahlt», sagt Bräuchi. 150’000 Franken, in vier Tranchen. Das Geld geht über die liechtensteinische Bank Frick auf ein Konto der amerikanischen Kryptowährungbörse Kraken.
Hat Ihre Bank nie nachgefragt, wozu Sie so viel Geld von Ihrem Konto abheben?
Bei diesen Zahlungen nicht. 150’000 Franken in wenigen Tagen! Nur einmal, im Frühling, bei einer Einzahlung auf Crypto1Capital, hat mich meine Bank, die Raiffeisen, angerufen und vor Betrug gewarnt. Ich habe das meinem Berater Michael Pohl mitgeteilt. Er hat wieder den Interessierten gespielt, wollte wissen, warum sie genau einen Betrug befürchten. Dann hat er verschiedene Erklärungen vorgebracht.
Bräuchi zeigt Ausdrucke von Chat-Protokollen. Der angebliche Berater schrieb im April 2023: «Ich führe dieses Misstrauen auf den Zusammenbruch der Credit Suisse zurück und als Folge der Bewegung einer grossen Anzahl von Fiat-Währungen in den Markt. Die traditionellen Banken haben ihre Vertrauenswürdigkeit verspielt, ihre Kunden wandern zu Kryptobanken ab. Deshalb wickeln sie solche Transaktionen nicht gerne ab, die etwas mit Kryptowährungen zu tun haben.» – «Denke ich auch», schreibt Bräuchi zurück.
Verloren in einer fremden Welt
Bräuchi sitzt am Ecktisch in seiner Walliser Ferienwohnung. Während er erzählt, zieht er immer wieder die Brauen hoch oder atmet laut durch die Nase. Die Arme hat er inzwischen eng um den Körper geschlungen, als wollte er sich verkriechen. Ein riesiger Bildschirm hängt an der Wand, auf dem Tisch stehen ein Laptop und ein Drucker. Hier hat er Stunden verbracht, immer angespannter die Kryptokurse verfolgt, neue Konten eröffnet, immer verzweifelter mit dem Berater hin- und hergeschrieben.
Die Ecke wirkt wie ein Fremdkörper im Wohnzimmer, das schon im November weihnachtlich dekoriert ist. Kleine Kuhglocken hängen an den Wänden, ein Mosaik zeigt das Matterhorn, liebevoll gestaltet, sorgfältig arrangiert. «Ich habe schon immer gern eingerichtet», sagt Bräuchi. Das Reale, Handfeste, Persönliche, das ist seine Welt. Das Virtuelle, das Internet, ist es nicht. «Sie erhalten noch nichts, weil Sie noch keinen Validator-Status im BTC-Netzwerk haben, wir können keine Fiat-Währung auf Kraken abheben», schreibt sein Berater. Bräuchi versteht nur Bahnhof. «Von Krypto und all diesen Sachen habe ich eigentlich null Ahnung.» Aber er vertraute seinem Berater.
Die vermeintlichen Retter
Im Herbst 2023 meldet sich eine Maya Brown von der World Blockchain Organization. Er sei Opfer eines Betrugs geworden, teilt sie ihm mit. Bei Ermittlungen gegen die Betreiber von Crypto1Capital sei man auf seinen Namen gestossen. Zwar findet man eine World Blockchain Organization im Internet. Sie gibt sich als Unterabteilung der Uno aus. Das ist sie jedoch nicht. Und Maya Brown gehört wohl zum selben Betrügernetzwerk wie Berater Michael Pohl. Sein Geld könne gerettet werden, sagt sie. Um die gesperrten Konten zu öffnen, sei aber eine Einzahlung von 60’000 Dollar notwendig. Die erhalte er zusammen mit den geretteten Geldern wieder zurück.
- Vertrauen Sie keiner Plattform, die ihren Sitz auf einer entlegenen Insel hat. Sie sollte ihren Rechtssitz in der Schweiz oder in einem (europäischen) Land haben, wo man bei Bedarf auch einen Rechtsstreit austragen kann.
- Seriöse Handelsplattformen listen Eigentümer, Betreiber, Gebühren transparent auf. Sie bieten eine Testumgebung an, auf der man den Handel mit Bitcoin simulieren kann. Bei neuen Kundinnen und Kunden verlangen sie immer einen Identitätsnachweis (Kopie der Identitätskarte hochladen).
- Teilen Sie nie Log-ins und Passwörter per Telefon oder E-Mail mit.
- Konsultieren Sie die Firmen-Warnliste der Schweizer Finanzaufsicht Finma.
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Doch Bräuchi hat keine 60’000 Dollar mehr. Seine Frau will ihm nichts geben. Schon immer hatten sie getrennte Konten, längst sind sie aber auch zerstritten wegen seiner Kryptogeschäfte. Seit Monaten lebt er die meiste Zeit allein in der Walliser Ferienwohnung. Maya Brown, die falsche Ermittlerin, drängt ihn, Freunde um Geld anzugehen. Dasselbe tut Michael Pohl, der sich jetzt selbst als Opfer von Crypto1Capital inszeniert und nicht von Bräuchi ablässt. «Bist du bereit, einfach eine halbe Million zu verlieren, wenn sich die Möglichkeit bietet, sie zurückzubekommen? Bist du verrückt?», schreibt er ihm. «Michael, das Problem ist, ich habe keine 60'000 Dollar», antwortet Bräuchi.
Die Mail der angeblichen Steuerbehörde
Die Betrüger setzen noch einen drauf. Bräuchi bekommt eine Mail von der Eidgenössischen Steuerverwaltung in Bern. Ein Gewinn von 340’000 Franken sei angemeldet worden, schreibt ihm ein Mitarbeiter, der zuständig für die Verrechnungssteuer ist. Wurde die Überweisung doch getätigt? Bei Bräuchi kommt nochmals Hoffnung auf. «Sogar meine Frau glaubte, die Mail sei echt.» Vorsichtiger geworden, fragt er bei der Schweizer Behörde persönlich nach und erreicht tatsächlich den Mitarbeiter, der den Brief angeblich unterschrieben hat. Doch dieser legt ihm dar, dass alles eine Fälschung ist. Von Anfang an. Die Plattform Crypto1Capital, der Berater, die Aufsichtsbehörde, alles. Er solle sofort zur Polizei gehen.
Haben Sie vorher nie mit jemandem über die Sache gesprochen?
Nur mit meinem Bruder. Aber nur in Andeutungen, und erst, als es ohnehin zu spät war. Er hat ebenso wenig Ahnung vom Kryptogeschäft wie ich. Meine Frau hat mich immer gewarnt, ich wollte aber nicht hören. Ich bin einer, der seine Angelegenheiten selbst regeln will. Das war schon in der Firma so.
Die Polizei macht Bräuchi wenig Hoffnung, dass er sein Geld wiedersieht. Die Betrüger operieren in der Regel aus dem Ausland, das einbezahlte Geld landet über Umwege auf Banken in Osteuropa oder in Malta. Oft werden dabei Ahnungslose als «Money Mules» benutzt, die das Geld weiterreichen. Onlineanlagebetrug ist ein Business mit mafiösen Strukturen. Behörden schätzen den Schaden allein in der Schweiz auf 100 Millionen Franken im Jahr 2023.
Die Hoffnung als Gift
Mit seinem Gang an die Öffentlichkeit will Marcel Bräuchi andere warnen. Er muss sein Leben neu ordnen, nicht nur die Finanzen. Sein Geld ist weg, aber er hat noch die zwei Wohnungen. Mehr belastet ihn der Konflikt mit seiner Frau. Und er hat das Vertrauen in sich selbst verloren. Noch immer schreiben ihn regelmässig Leute an, die ihm vorgaukeln, dass er seine Investitionen noch retten könne, überfluten ihn mit angeblichen Kontoauszügen von Guthaben, die auf seinen Namen lauten. «Ich weiss, dass das alles Betrüger sind. Und trotzdem frage ich mich manchmal: Was, wenn es doch eine Möglichkeit gibt, mein Geld zurückzubekommen?»
Glauben, was er sieht – Marcel Bräuchi weiss, dass er sich darauf nicht mehr verlassen kann. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Darauf bauen die Betrüger.