So erlebte Lyla Schwartz ihre Flucht aus Kabul
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«Es war chaotisch»:So erlebte Lyla Schwartz ihre Flucht aus Kabul

Hilfswerk-Leiterin Lyla Schwartz (30) über ihre Flucht von Afghanistan in die Schweiz
Sie entkam haarscharf den Taliban

Lyla Schwartz hat sich in Afghanistan jahrelang um Kinder gekümmert, die durch die Gräueltaten der Taliban traumatisiert wurden. Nun musste sie Kabul verlassen. Sie hat in der Schweiz Unterschlupf gefunden. Blick erzählt sie exklusiv von ihrer Flucht.
Publiziert: 23.08.2021 um 01:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2021 um 07:22 Uhr
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Lyla Schwartz (30) hat bis vor wenigen Tagen als Psychologin in Afghanistan gearbeitet.
Foto: STEFAN BOHRER
Sarah Frattaroli

Lyla Schwartz (30) war bis vor einer Woche in Kabul. Jetzt sitzt sie in einem Café in Basel und erzählt uns von ihrer Flucht. «Ich bin immer noch etwas desorientiert», sagt Schwartz. Kein Wunder, denn sie hat eine Odyssee hinter sich.

«Am Sonntagmorgen hörten wir, dass die Taliban näherrücken. Da wussten wir: Wir müssen raus. Es war chaotisch. Erst hiess es, wir sollten zum Flughafen kommen. Dann wieder, dass wir zu Hause bleiben sollen.»

350 Leute im Bauch eines Flugzeugs

Letztlich bringt ein Helikopter Lyla Schwartz zum militärischen Teil des Kabuler Flughafens. Dort besteigt sie ein Flugzeug der US-Armee. Schwartz ist US-Amerikanerin, lebt und arbeitet seit über drei Jahren in Afghanistan. Sie ist Psychologin, hat in Afghanistan die Organisation Peace of Mind gegründet. Diese kümmert sich um Kinder, die durch die Gräueltaten der Taliban traumatisiert wurden. Um Knaben etwa, die als Kindersoldaten rekrutiert wurden. Oder um junge Frauen, die man wegen «moralischer Vergehen» ins Gefängnis steckte. Also zum Beispiel, weil sie Sex vor der Ehe hatten.

Am Sonntagabend besteigt Lyla Schwartz in Kabul den US-Armeejet. Nur Stunden später bricht am Flughafen das grosse Chaos aus. Die Bilder von Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung an startende Flugzeuge klammern, gehen um die Welt.

«Wir wurden auf einen Militärflugplatz in Doha, Katar, gebracht», erinnert sich Schwartz. «In meinem Flugzeug waren 300, vielleicht 350 Leute. Sie sassen sogar am Boden, so voll war die Maschine.»

Sorge um Mitarbeiter vor Ort

Von Doha geht es mit einem weiteren Flugzeug nach München. Dort besteigt Schwartz einen Zug und kommt in die Schweiz. Sie war in den letzten Jahren häufig hier, ist Beraterin der Schweizer Organisation Asylex, die sich um Menschen im Asylprozess kümmert. Darunter sind viele Afghanen.

In der Schweiz angekommen, trifft sich Lyla Schwartz mit Lea Hungerbühler (31), Anwältin und Präsidentin von Asylex. «Es ist beeindruckend, wie sie mit allem klarkommt», sagt Hungerbühler. «Aber das Stress-Level ist natürlich hoch. Sie arbeitet hart, Tag und Nacht, um ihr Team in Afghanistan und die Menschen in ihren Hilfsprogrammen vor den Taliban zu schützen.»

Rund 25 Menschen arbeiten für Schwartz' Organisation Peace of Mind. Allesamt Afghanen. Wegen ihrer Arbeit für die Opfer der Taliban sind sie jetzt in akuter Gefahr, warnt Schwartz: «Ich mache mir grosse Sorgen um meine Mitarbeiter.»

Schuldgefühle, weil sie es rausgeschafft hat

Während des Interviews vibriert ihr Handy im Minutentakt. «Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hatte ich 50 verpasste Anrufe», sagt Schwartz. «Die Leute haben grosse Angst. Sie fühlen sich gefangen. Körperlich und geistig. Sie fragen: ‹Warum hast du mich zurückgelassen?›»

Schwartz senkt den Blick. Überlebensschuld-Syndrom nennt man es, wenn jemand wie sie Schuldgefühle hat, weil er oder sie selber entkommen ist. Es ist eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung. Wahrscheinlich leide sie daran, sagt die Psychologin. «Ich konnte mich nicht einmal von den Kindern verabschieden.» Sie spricht von den ehemaligen Kindersoldaten und anderen Taliban-Opfern, um die sich ihre Organisation in Kabul kümmert.

Sie versucht nun mit aller Kraft, besonders gefährdete Leute aus Kabul zu evakuieren. «Es ist schwierig, die Lage verändert sich im Minutentakt», sagt Schwartz. Asylex hat einen Chatbot eingerichtet, der den Menschen vor Ort Evakuierungsoptionen aufzeigt. Wer zum Beispiel für eine internationale Organisation arbeitete oder wer Familienmitglieder im Ausland hat, hat Chancen auf ein humanitäres Visum.

Sie sah die Gräueltaten der Taliban mit eigenen Augen

Schwartz und Hungerbühler fordern, dass die Schweiz 10'000 afghanische Flüchtlinge aufnimmt. Sie stossen damit ins selbe Horn wie linke Parteien. Der Bundesrat hat der Forderung allerdings bereits eine Absage erteilt.

Dabei gehe es gar nicht darum, halb Afghanistan zu evakuieren, versichert Schwartz. Nur eben jene Leute, auf die es die Taliban abgesehen haben. «Ich habe die Gräueltaten der Taliban mit eigenen Augen gesehen. Ich habe Kinder gesehen, die gefoltert wurden. Ich habe Frauen gesehen, die mit Säure verbrannt wurden.»

Spätestens wenn die letzten US-Soldaten abgezogen sind, drohe einigen ihrer Mitarbeitenden und Tausenden anderen Menschen genau dieses Schicksal, warnt Schwartz. «Es ist eine tickende Zeitbombe.»

«Es bricht mir das Herz»

Wie es für sie selber weitergehen soll, weiss Lyla Schwartz nicht. «Wir müssen jetzt erst mal entscheiden, ob wir unsere Projekte vor Ort weiterführen können.» Ob sie je nach Afghanistan zurückkehren wird? «Am liebsten würde ich sofort zurück.» Lea Hungerbühler interveniert: «Auf keinen Fall!» Die beiden lachen.

Dann wird Schwartz wieder ernst. «In meinem Kopf bin ich immer noch dort. Ich denke mir: Bald ist es Zeit, den Kindern das Abendessen zu bringen! Es bricht mir das Herz. Wir haben so viel Zeit und Energie in etwas gesteckt, woran wir geglaubt haben. Etwas, das Menschen geholfen hat. Jetzt ist alles dahin.»

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