Jedes Jahr im Herbst zittern viele Menschen vor der nächsten Prämienrunde. Dieses Jahr für einmal unbegründet. Denn die Krankenkassenprämien 2022 sinken – das gab es schon lange nicht mehr. Blick trifft CSS-Chefin Philomena Colatrella (53) zu einem Gespräch über Prämien, Corona und Reformen, vieles dreht sich um Kosten und ums Sparen. Die CSS ist der grösste Grundversicherer in der Schweiz, senkt die Prämien im Schnitt um fast drei Prozent.
Blick: Die Corona-Pandemie hat den Anstieg der Gesundheitskosten nicht wirklich gebremst. Wieso sinken die Prämien im Schweizer Durchschnitt trotzdem?
Philomena Colatrella: Die Pandemie hat die Kosten unter anderem wegen des Operationsverbots weniger stark ansteigen lassen. Das ist allerdings ein kurzzeitiger Effekt. Hinzu kommt der Abbau der Reserven.
Droht in den nächsten Jahren folglich ein Prämienschock?
Klar ist, dass wir im Moment eine besondere Situation haben. Wie sich die Prämien entwickeln werden, hängt davon ab, wie viele Leistungen in Anspruch genommen werden. Wir sehen aber nicht, dass die Nachfrage nach Behandlungen wirklich abnimmt. Ohne Reformen wird es nicht gelingen, die Kosten nachhaltig zu dämpfen.
Die CSS senkt die Prämien deutlich. Hat Ihr Versicherer in den letzten Jahren zu hohe Prämien einkassiert?
Nein, wir haben immer knapp kalkuliert. Wir können die Durchschnittsprämie um 1,1 Prozent senken, weil wir weniger Ausgaben hatten als angenommen. Prämien sind Prognosen auf Basis des Vorjahres, diese Entwicklung war damals noch nicht absehbar. Als Folge sind die Reserven angestiegen. Nun reagieren wir, indem wir einen Teil unserer Reserven abbauen. Insgesamt senken wir unsere Prämien im nächsten Jahr also um 2,8 Prozent.
Die CSS hat bislang auf Rückzahlungen verzichtet. Woher kommt der Gesinnungswandel – ein Pandemie-Zückerchen?
In der letzten Zeit gab es noch einige sehr gute Anlagejahre. Das heisst, auch mit knapp kalkulierten Prämien allein lassen sich die Reserven nicht mehr abbauen. Deshalb zahlen wir nächstes Jahr 90 Millionen Franken an unsere Versicherten zurück.
Warum werden die Reserven gerade jetzt abgebaut?
Das hat mit einer neuen Verordnung zu tun. Die Kassen können freiwillig einen Teil ihrer Reserven reduzieren. Die CSS hat nach dem Abbau aber immer noch ein genügend grosses Polster für die nächste Pandemie oder auch gegen einen Absturz an den Aktienmärkten.
Vor Corona galt: Es gibt zu viele Spitäler und zu viele Betten. Gilt das immer noch?
Ja. Es gibt immer noch sehr viele Spitäler, wenn man mit anderen Ländern vergleicht, deswegen sind ja Reformen so wichtig. Das Spitalsystem muss noch effizienter werden, es müssen noch mehr Eingriffe ambulant statt stationär gemacht werden.
Intensivbetten auf Vorrat anzulegen – bringt das etwas?
Nein. Das ist sehr teuer und führt nicht zum Ziel, denn es fehlt ja an Personal. Wichtig ist, dass die verschiedenen Akteure des Gesundheitswesens weiter miteinander reden, um eine gute Versorgung gewährleisten zu können.
Reden senkt aber die Kosten nicht. Wo muss jetzt gespart werden?
Es gibt drei Ansatzpunkte: die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Spitalleistungen, damit es mehr ambulante Eingriffe gibt und die Prämienzahlenden entlastet werden. Dann braucht es eine Weiterentwicklung der integrierten Versorgung und zeitgemässe Tarifstrukturen wie den neuen Arzttarif Tardoc. Das sind die Hauptpfeiler der Reformen.
Stichwort integrierte Versorgung, also zum Beispiel das Hausarztmodell. Gibt es Leute, die noch nicht in so einem Sparmodell versichert sind?
Rund 70 Prozent aller Prämienzahler haben bereits ein solches Modell gewählt. Nun geht es darum, die richtigen Anreize zu setzen, damit die restlichen 30 Prozent auch noch überzeugt werden.
Wer verweigert sich denn?
Die genauen Profile kennen wir nicht. Aber wichtig ist, dass gerade auch chronisch Kranke diese Modelle wählen. So lässt sich ihre Behandlung besser koordinieren.
Philomena Colatrella (53) hat es fast von der Pike bis ganz an die Spitze der CSS geschafft. 1999 steigt die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin beim grössten Schweizer Grundversicherer als junge Rechtsanwältin ein. Eine steile Karriere beginnt, die Colatrella 2016 bis auf den CEO-Posten führt. Die CSS ist mit 1,45 Millionen Versicherten die grösste Krankenkasse in der Grundversicherung. Colatrella ist verheiratet. Ihr jüngerer Bruder Genesio ist Trainer der U21-Mannschaft des FC Zürich.
Philomena Colatrella (53) hat es fast von der Pike bis ganz an die Spitze der CSS geschafft. 1999 steigt die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin beim grössten Schweizer Grundversicherer als junge Rechtsanwältin ein. Eine steile Karriere beginnt, die Colatrella 2016 bis auf den CEO-Posten führt. Die CSS ist mit 1,45 Millionen Versicherten die grösste Krankenkasse in der Grundversicherung. Colatrella ist verheiratet. Ihr jüngerer Bruder Genesio ist Trainer der U21-Mannschaft des FC Zürich.
Viele Menschen sind coronamüde – Sie auch?
Das geht auch mir so. Auch mich macht die Situation müde. Anderseits habe ich mich damit arrangiert. Man muss Wege finden, mit der Pandemie umzugehen. Ich bin geimpft, ich bin vorsichtig in grossen Menschenansammlungen, halte Abstandsregeln und Hygienemassnahmen ein und nehme Rücksicht auf die anderen.
Setzt die CSS auf Impfanreize bei Mitarbeitenden oder Kunden?
Nein. Aber wir informieren und klären auf, schaffen Bewusstsein für die Impfung.
Ist es denkbar, Ungeimpften Leistungen zu kürzen?
Ungeimpften Leistungen zu kürzen, ist ein No-Go. Das dürfen wir nicht – und machen es auch nicht. Risikozuschläge sieht das System der solidarischen Krankenversicherung nicht vor.
Wird Corona das Gesundheitssystem nachhaltig verändern?
Das ist noch unklar. Eines lässt sich feststellen: Während Corona haben viele den Gang in die Arztpraxen gescheut. Die Nachfrage nach Telemedizin-Angeboten, Online-Symptom-Checkern oder telefonischer Beratung hat um ein Drittel zugenommen. Dieser Trend hält im Moment noch an. Klar ist: Das Gesundheitssystem hat den Stresstest bis jetzt bestanden.
Und bezahlt hat der Bund, also die Steuerzahler?
Das ist nicht richtig. In einer ersten Phase haben die Krankenkassen die Testkosten übernommen. Allein bei der CSS fielen im letzten Jahr coronabedingt 80 Millionen Franken zusätzlich an. Die Corona-Kosten aller Versicherer belaufen sich bis jetzt auf 700 Millionen Franken. Das konnten wir dank der Reserven abfedern. Der Bund hat viel bezahlt, aber eben auch die Krankenkassen.
Etwa für die Impfung?
Genau, bis Ende Juni 2021 hat die CSS 24 Millionen Franken für Impfungen gezahlt.
Was kommt da noch auf die CSS zu, wie hoch werden die Gesamtimpfkosten sein?
Schätzungen sind im Moment schwierig. Wir wissen nicht, welcher Anteil der Bevölkerung sich letztlich impfen lassen wird und ob Booster- oder jährliche Auffrischimpfungen hinzukommen.
Corona macht depressiv, heisst es. Wen trifft das besonders?
Wir sehen eine Zunahme der Leistungen in der ambulanten Jugendpsychiatrie. Auch die Resultate unserer Gesundheitsstudie deuten in eine ähnliche Richtung: Junge Frauen bis 30 Jahre leiden besonders unter den psychischen Folgen der letzten eineinhalb Jahre. Diese Altersgruppe nimmt auch unsere digitalen Angebote gegen Angststörungen am häufigsten in Anspruch.
Moderne Spitäler haben nur noch Ein- oder Zweibettzimmer. Braucht es da noch Zusatzversicherungen?
Die Zusatzversicherungen sind ein Bedürfnis unserer Kunden. Es geht nicht nur um Hotellerie und Komfort, sondern eben auch um die freie Arztwahl. Und um die Möglichkeit, medizinische Innovationen wie digitale Therapien zu versichern. Wir müssen klarer aufzeigen, welche Mehrwerte die Kunden für ihr Geld bekommen. Dieser Markt ist wichtig.
So wichtig, dass die Finanzmarktaufsicht (Finma) den Kassen eins auf die Finger gegeben hat.
Es geht darum, Transparenz herzustellen und saubere Spitalrechnungen zu erwirken. Das hat die Finma bei den Versicherern und indirekt auch bei den Spitälern angemahnt. Wichtig ist eine klare Trennlinie zwischen den Leistungen der Grund- und der Zusatzversicherung.
Hat die CSS auch Verträge mit Spitälern gekündigt?
Ja, wir haben Ende letzten Jahres 116 Verträge gekündigt. Wir wollen nur noch Verträge, in denen die Mehrleistungen in der Zusatzversicherung klar ausgewiesen sind. Mit all diesen Spitälern sind wir in Verhandlungen.
Was heisst das für die Kunden, hängen die nun in der Luft?
Wir lassen die Kunden nie hängen. Wir setzen alles daran, mit all den Spitälern Übergangslösungen zu finden.
Wie gross ist denn der Widerstand der Spitäler?
Bei den meisten Spitälern ist angekommen, dass es für den Zusatzversicherungsmarkt eine neue Denkweise braucht.