Als Königsdisziplin der erfolgreichen Chefkarriere gilt gemeinhin der selbst gewählte Abgang. Den Termin frei entscheiden zu können, ohne Druck von oben und aussen, ist die ganz hohe Schule der Konzernwelt. Nur eine Steigerung ist noch möglich: auch noch seinen Nachfolger selbst zu bestimmen.
Da sass Thomas Jordan also, ganz allein. Normalerweise flankieren bei derartigen Anlässen die Vorgesetzten den Auftritt und säuseln die rituellen Elogen. Doch beim Rücktritt des langjährigen Nationalbank-Lenkers blieb Barbara Janom Steiner, als Präsidentin des Bankrats der Nationalbank die formal Jordan übergeordnete Instanz, genauso unsichtbar wie all die Jahre zuvor, sie durfte nur via Pressemitteilung von der «herausragenden Persönlichkeit» und ihrem «zutiefsten» Bedauern flöten. Auch die administrative Dienstherrin der Behörde, Finanzministerin Karin Keller-Sutter, wurde nicht gesichtet. Es war sein Entscheid – und sein Solo-Auftritt.
37 Minuten nahm er sich Zeit, doch zur entscheidenden Frage hielt er sich bedeckt: Wann er den Abschiedsentscheid getroffen habe. Mehr als ein «Nicht gestern» war ihm nicht zu entlocken. Aber ein Signal blitzte kurz auf: Die Herausforderungen der letzten Jahre – Covid, Ukraine-Krieg, CS-Krise – hätten «keinen Rücktritt zugelassen». Das klang fast so, als ob da jemand schon lange weggewollt hätte, aber die Pflicht eben vorgegangen sei. Jetzt, so die Botschaft, bin ich mal dran.
Zinssenkung: Der erste Freiheitsschlag
Und wer wollte, konnte sogar schon die überraschende Zinssenkung zwanzig Tage später als Signal der neuen Freiheit deuten. Jordan, Inbegriff des Traditionalisten, preschte an allen grossen Notenbanken vorbei und zeigte den mächtigeren Mitstreitern: Seht her, ich habe die Inflation im Griff – im Gegensatz zu euch. Der 61-Jährige gab sich sogar ungewohnt locker. «Das würde mich jetzt auch interessieren», warf er beim Medienauftritt des Direktoriums auf die Frage an seinen Vizepräsidenten Martin Schlegel ein, was der denn anders machen würde. Eine Antwort gab es nicht, nur Gelächter. Es wirkte fast, als wäre «Big Thomas» von einer Last befreit.
Der Rücktritt war von langer Hand geplant. Laut BILANZ-Recherchen begann Thomas Jordan mit dem Einstieg in den Ausstieg vor mehr als zwei Jahren, und eigentlich hatte er seinen Abschied schon für den letzten Herbst anvisiert. Doch dann kam die CS-Krise dazwischen. Im Herbst 2021 hatte der SNB-Chef gerade eine Herzoperation hinter sich, sein damaliger Vize Fritz Zurbrügg hatte ihn erstaunlich offensiv vertreten und demonstriert, dass die Behörde auch ohne den Mann funktionierte, der sie so lange geprägt hatte. Jordan war vital zurückgekommen, der ehemalige Wasserballer schwamm wieder mehr und verbrachte mehr Zeit auf dem Hometrainer.
Doch dann musste sich auch Zurbrügg, drei Jahre älter, einer Herzoperation unterziehen, und im Dezember 2021 verkündete er seinen Rücktritt, obwohl er bis zur Pensionierung noch drei Jahre hätte bleiben können. Für Jordan war es ein Signal. Gesundheitlich war er zwar wieder voll einsatzbereit. Doch wenn es noch eine Zeit mit attraktiven Verwaltungsratsmandaten nach der Nationalbank geben sollte, wurde es Zeit – das Alter von 60 Jahren gilt gemeinhin als Schallmauer für die grossen Mandate. Dass der hoch angesehene Mann für jeden bedeutenden Verwaltungsrat in Corporate Switzerland eine Zierde wäre, ist unbestritten. «Er ist absolute A-Liga», bestätigt ein Headhunter.
Abnickerrunde Bankrat
Die rückständige Corporate Governance der Nationalbank, in Kombination mit seiner in langen Jahren zementierten Dominanz, verlieh Jordan eine fast schon unheimliche Machtfülle. Martin Schlegel war 2003 als Praktikant unter Jordan in der Forschungsabteilung der Währungsbastion eingestiegen, und Jordan förderte den Stadtzürcher Ökonomen über mehr als zwei Jahrzehnte. Er liess ihn verschiedene Stationen durchlaufen, inklusive eines Auslandsaufenthaltes von drei Jahren in der SNB-Dependance in Singapur. Schlegel gilt deshalb intern auch als «Mini-Thomas»: Er verbrachte sein gesamtes Berufsleben bei der SNB – wie Jordan. Auch seine Frau lernte er hier kennen.
Natürlich liegt der Nachfolgeprozess formal beim Bankrat. Aber eben: Das ist Theorie. Zwar hat sich das Gremium schon vor einigen Jahren in die Richtung eines normalen Verwaltungsrats bewegt: Die Mitgliederzahl beträgt elf Personen, die Ausschüsse suggerieren normale VR-Arbeit, auch Nachfolgethemen werden turnusmässig diskutiert.
Doch damit hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten zur privaten Konzernwelt. Denn die Mitglieder werden nicht nach Kompetenz, sondern nach Proporz gewählt. Sechs Mitglieder werden vom Bundesrat direkt bestimmt, fünf von den Aktionären der SNB. Bund, Kantone, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften – alle schicken ihre Vertreter. Fachlich können sie kaum etwas beitragen: Die Notenbank-Lenker, die sich alle zwei Monate in Basel in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich klandestin im mächtigsten Wirtschaftsclub der Welt treffen, leben in ihren eigenen Echokammern von «Refinanzierungsfaziliäten», «Overnight-Index-Swapsätzen» oder «antizyklischen Kapitalpuffern». Dilettanten ertragen sie schlecht. Bei allen wichtigen Sitzungen war Jordan dabei, Widerrede gab es praktisch nicht, obwohl er formal dem Gremium unterstellt war. Bei dem Schlüsselthema Geldpolitik etwa ist sogar per Satzung geregelt, dass der Bankrat nichts zu sagen hat, genauso bei der Anlagepolitik. «Eine Abnickerrunde», befindet ein Ex-Mitglied.
Die Rolle von Ueli Maurer
So konnte Jordan über die Zurbrügg-Nachfolge die Weichen für seine Nachfolge praktisch ohne Gegenwehr stellen. Anders als in einem normalen VR ist nicht etwa das gesamte Gremium in die Nachfolgesuche einbezogen, sondern ein dreiköpfiger Ernennungsausschuss ist laut Satzung angewiesen, den anderen Bankratsmitgliedern lediglich einen Kandidaten zu präsentieren. Dazu hört er, so steht es im Reglement, «die im Direktorium verbleibenden Mitglieder an». Und das heisst angesichts der sehr speziellen Machtbalance: Der allmächtige Jordan konnte seinen Kandidaten Schlegel ins dreiköpfige Direktorium hieven.
Allerdings: Formal geschah die entscheidende Weichenstellung für die Jordan-Nachfolge erst beim nächsten Schritt. Denn während der Vorschlag für die Direktoriumsbesetzumg vom Bankrat ins Finanzdepartement und von dort in den Bundesrat wandert, werden der Präsident und der Vizepräsident, so hält es das Nationalbankgesetz fest, formal allein vom Bundesrat bestimmt – ohne Antragsrecht vom Bankrat. Eigentlich hätte Jordan hier nichts zu sagen gehabt. Aber eben: eigentlich.
Denn der damalige Finanzminister Ueli Maurer folgte auch hier brav den Wünschen von «Big Thomas». Nach aussen signalisierte er zwar durchaus Distanz. Die grosse Bilanzsumme sei «an der Grenze des Erträglichen», hatte er im Sommer 2018 befunden, und der bankenfreundliche Magistrat gab sich offen gegenüber Bankvertretern, die bei der SNB eine One-Man-Show Jordans kritisierten und unter seiner scharfen Negativzins-Medizin litten. Maurer soll sogar ein Wegloben Jordans auf einen verdienten internationalen Posten ventiliert haben. Auch die Aufstockung des Direktoriums von drei auf fünf Mitglieder war ein Thema, und es zirkulierten damals schon Namen von Kandidaten: neben dem damaligen Vontobel-Chef Zeno Staub auch Pictet-Lenker Renaud de Planta oder der heutige Bankiervereinigungs-Präsident Marcel Rohner.
Doch am Ende kapitulierte auch der SVP-Veteran vor der Macht der Behörde und ihrem starken Vormann mit dem untadeligen Ruf. Schon seine Ernennung der Bündner Regionalpolitikerin Barbara Janom Steiner 2019 zur Präsidentin des Bankrats war ein Signal: Sie war eine enge Vertraute der in der SVP verhassten Eveline Widmer Schlumpf. Dennoch nominierte Maurer sie – seine Amtsvorgängerin hatte stets einen engen Draht ins SNB-Direktorium gepflegt, und so war die Wahl Janom Steiners sicher nach Jordans Gusto.
Schlegel de facto gesetzt
Und auch bei dem Aufstieg Schlegels ins Vizepräsidium und damit in die Kronprinzenrolle im Mai 2022 zeigte Maurer keine Widerwehr, obwohl rein formal weder das Direktorium noch der Bankrat der Nationalbank mit dem Entscheid etwas zu tun hatten. Besonders pikant: Es war ein heikler Entscheid. Denn die ungeschriebenen Nationalbank-Gesetze geboten eigentlich, dass die Nummer drei zur Nummer zwei aufrückte, und so hätte die Leiterin des dritten Departements, Andréa Maechler, zu Jordans Vize aufsteigen müssen. Doch Maurer und der Gesamtbundesrat fügten sich den Plänen Jordans und nominierten Schlegel. Dass ausgerechnet der ersten Frau im Direktorium die standesübliche Beförderung verwehrt wurde, war umso heikler, als sich die SNB seit Längerem gegen die Vorwürfe einer Männerbastion wehren musste. Mit dabei: die heutige Finanz- und damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter.
Zwar regt sich jetzt Widerstand gegen die Automatiksteuerung. «Das Präsidium sollte nicht automatisch von der Nummer zwei geerbt werden», betont der Basler Wirtschaftsprofesser Yvan Lengwiler, Vormann des SNB Observatory, eines Nationalbank-Watchdogs. «Der Bundesrat sollte die dafür am besten geeignete Person wählen, selbst wenn diese das neu zu wählende Mitglied sein sollte.» Und er fügt hinzu: «Es wäre gut, wenn eine externe Person neu dazugewählt wird.»
Doch das ist durch die fast schon minutiöse Planung Jordans beinahe ausgeschlossen. Sein Zögling Schlegel ist de facto gesetzt. Das Antragsrecht für den Präsidentenposten liegt jetzt bei Keller-Sutter, und sie hat seine Kür zum Vizepräsidenten bereits mitgetragen. Die Mitglieder des Ernennungsausschusses, die seinen möglichen Rivalen ernennen müssen, sind zudem geschwächt. Präsidentin Janom Steiner steht vor ihrer letzten Amtszeit, Ende April muss sie wie der gesamte Bankrat für eine vierjährige Periode wiedergewählt werden, sie muss allerdings nach drei Jahren wegen der Alterslimite von zwölf Jahren gehen. Ihr Vizepräsident, als Vertreter der Bankenlobby ins Gremium gehievt, ist angeschlagen: Bär-Präsident Romeo Lacher, der nach dem Benko-Debakel bei seiner Bank kaum noch haltbar, aber dort mit einer für ihn deutlich wichtigeren Suche betraut ist – nach dem neuen CEO. Der Dritte im Ernennungsausschuss ist der St. Galler Finanzprofesser Angelo Ranaldo, der aber erst letztes Jahr gewählt wurde.
Zeitfaktor für Schlegel
Und das heisst: Schlegel, der bei der Auswahl des neuen Direktoriumsmitglieds wie zuvor Jordan angehört werden muss, hat de facto ein Vetorecht gegen jeglichen Kandidaten von aussen – und kaum ein Interesse, einen Rivalen für den Präsidentenposten zu berufen. Dass zudem mit dem dritten Direktoriumsmitglied Antoine Martin erst letzten September ein Externer hinzustiess, macht die Wahl eines nicht internen Kandidaten, geschweige denn eines aussenstehenden Präsidenten, extrem unwahrscheinlich. Natürlich kursieren prominente Namen, vom Berner Ökonomieprofessor Aymo Brunetti über die Finanzstaatssekretärin Daniela Stoffel bis wieder zum Ex-Vontobel-Mann Staub. Doch realistisch ist das alles kaum. In der Geschichte der ehrwürdigen Institution ist es erst zwei Mal vorgekommen, dass jemand von aussen auf den Präsidentensessel berufen wurde – das letzte Mal ein gewisser Edwin Stopper im fernen Jahr 1966. Es wäre auch ein Affront gegen das als Kollegialgremium agierende Direktorium – und dazu dürfte es den Entscheidungsträgern an Mut fehlen.
Zudem spricht der Zeitfaktor gegen eine Besetzung von aussen – dafür hat Jordan mit seiner vergleichsweise kurzen Abgangsfrist gesorgt. Schon die letzte Besetzung zog sich hin. Vier Monate vor Entstehen einer Vakanz, so steht es im Reglement, soll der Ausschuss den neuen Kandidaten dem Bankrat präsentieren – Antoine Martin, den man erst bei der Fed in New York loseisen musste, trat erst sechs Monate nach Bekanntwerden der Vakanz an, das Direktorium hatte einige Wochen nur zwei Mitglieder. Jordan hat seinen Rücktritt auf Ende September terminiert, der Vorschlag für die Vakanz sollte also bis spätestens Ende Mai kommen – sportlich.
Und so spricht alles dafür, dass der Ernennungsausschuss als einzigen Kandidaten eine Person von Schlegels Gnaden präsentiert. Als Favoritin gilt Petra Tschudin, die vor 20 Jahren zusammen mit Schlegel in der Forschungsabteilung der Nationalbank begann und heute als eine von zwei Stellvertretern im ersten Departement unter anderem die zentrale Abteilung Volkswirtschaft leitet, die die für die Zinsfestlegung entscheidenden Inflationsprognosen liefert. Die 49-Jährige nähme Druck aus dem Genderthema und könnte das bislang von Schlegel geführte zweite Departement übernehmen, primär verantwortlich für die Finanzstabilität. Der Romand Martin, noch in der Einarbeitungsphase, könnte dann im dritten Departement bleiben, verantwortlich für die Zahlungsabwicklung, sein Spezialgebiet. Es wäre zwar ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen, dass Martin als Chef des dritten Departements zum Vizepräsidenten ernannt wird.
Besondere Ironie: Die deutsch-schweizerische Doppelbürgerin Tschudin ist die Ex-Frau von Stefan Gerlach, Chefökonom bei der Privatbank EFG und wie Lengwiler Mitglied im SNB Observatory, das explizit eine externe Nominierung fordert. Es menschelt eben überall, selbst beim Kronfavoriten Schlegel: Dass seine Frau Nicole Brändle im Januar zur neuen Direktorin von HotellerieSuisse, dem Dachverband der Hotelbranche, gewählt wurde, wie die «NZZ» vor Kurzem in einer fast schon schwärmerischen Story über Schlegel berichtete, wäre bei seiner Kür eher heikel – ihre Branche schiesst wegen des starken Frankens schon mal gegen die SNB.
Schlegel muss hohe Bilanzsumme abbauen
Die Herausforderungen für einen neuen Präsidenten Schlegel wären trotz der Beruhigung an der Zinsfront gross. Jordan hinterlässt Schlegel eine aufgeblähte Bilanzsumme, die die SNB mit voller Wucht den Widrigkeiten der Finanzmärkte aussetzt. «Der Abbau der viel zu grossen Bilanzsumme ist ein Problem», sagt Ex-SNB-Ökonom Adriel Jost. Und das Vorpreschen bei der Zinssenkung ist ein Signal, dass Jordan gar nicht so traditionalistisch ist, wie er immer auftritt – die SNB war in seiner Amtszeit mit ihren Massnahmen zur Frankenschwächung durchaus interventionistisch unterwegs. «Thomas Jordans Geldpolitik war extrem expansiv», betont Jost. «Auf Dauer wird es nicht möglich sein, tiefe Inflation mit Wechselkursstabilisierung und tiefen Zinsen zu kombinieren.»
Traditionalistisch war Jordan vor allem beim Ablehnen all der Reformvorschläge, die ihn ungefragt beglückten: Vergrösserung des Direktoriums, Offenlegung der Gesprächsprotokolle, Einrichtung eines Staatsfonds – mit ihm alles nicht zu machen. Das Bollwerk aus Überzeugungen und lange aufgebauter Reputation hielt: Mit mehr als zwölf Jahren ist Jordan der Präsident mit der zweitlängsten Amtszeit an der SNB-Spitze, nur ein gewisser Gottlieb Bachmann liegt mit 13,5 Jahren vor ihm – aber das war vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch auch Jordan verströmte zu Amtsbeginn noch nicht diese Gravitas, er wurde zunächst sogar nur interimistisch berufen. Der 47-jährige Schlegel kann ebenso wachsen.
Eine Reihe an To-dos
Er gilt als offener als Jordan, und die wirklich sinnvollen Reformen könnte er ohnehin nur im Zusammenspiel mit Bundesrat und Parlament erreichen: die Abschaffung der Ausschüttung an die Kantone, die Modernisierung der Corporate Governance des Bankrats, die Überwindung der seltsamen SNB-Struktur als börsenkotierte Zentralbank.
Dass sich die Dienstherrin Keller-Sutter des Öfteren an der Sturheit Jordans gestossen hat, ist in Bern ein offenes Geheimnis. Wenn sie Schlegel zum SNB-Präsidenten kürt, darf sie im Auftreten auf mehr Offenheit hoffen. Ob auch in der Sache: Das wird Schlegels Bewährungsprobe sein.