Stellenabbau bei VW und Co.
Wie die deutsche Autoindustrie in die Krise schlitterte

Gewinnwarnungen, Werkschliessungen, Jobabbau: Deutschlands Vorzeigeindustrie steht am Tiefpunkt – und das selbstverschuldet.
Publiziert: 21.11.2024 um 12:46 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2024 um 12:47 Uhr
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VW, der grösste deutsche Industriekonzern, steckt in einer tiefen Krise.
Foto: AFP

Auf einen Blick

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Holger Alich
Handelszeitung

Es gab mal eine Zeit, da war eine der grössten Sorgen des Volkswagen-Chefs, dass er zu viel verdienen könnte. «Wenn ich wirklich 20 Millionen Euro bekäme, wäre das den Menschen sicherlich nicht mehr zu vermitteln», sagte der damalige VW-Chef Martin Winterkorn dem «Spiegel». 

Das war Anfang 2013, und VW stand auf dem Zenit seines Erfolgs. Heute steht Winterkorn wegen der Softwaremanipulation an Dieselmotoren, die zwei Jahre später bekannt wurde, vor Gericht. Und VW steckt in der grössten Krise seiner 87-jährigen Konzerngeschichte. Bis zu drei Werke will der aktuelle VW-Chef Oliver Blume in Deutschland schliessen – das hat es noch nie gegeben. Zehntausende Jobs sind in Gefahr. 

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Aber auch bei BMW und Mercedes brechen die Gewinne ein: In den ersten drei Quartalen 2024 ist der addierte Gewinn der grossen deutschen Hersteller im Jahresvergleich um fast 34 Prozent auf noch knapp 23 Milliarden Euro eingebrochen. Mit den Herstellern leiden auch die Zulieferer: Bosch will 7000 Jobs streichen, Schaeffler 4700. Getriebespezialist ZF gar bis zu 14’000 Stellen. 

VW als Symbol für die Probleme der Autobranche

Mit knapp 4 Prozent Anteil am BIP ist die Autoindustrie die wichtigste Industrie in Deutschland. VW ragt als grösster deutscher Autokonzern heraus und steht daher symbolhaft für die tiefgreifenden Probleme der Branche und des Standortes. Zum Konzern gehören zehn Marken (unter anderem VW, Audi, Porsche, Škoda und Lamborghini), er hat über hundert Werke weltweit, beschäftigt 680’000 Mitarbeitende und wies zuletzt einen Umsatz von 332 Milliarden Euro aus – das ist mehr als die Wirtschaftsleistung Finnlands oder Katars.

Auch wegen seiner Strukturen steht der VW-Konzern sinnbildlich für die Malaise des Landes: Das Bundesland Niedersachsen hält immer noch 20 Prozent der Aktien. Gemeinsam mit den Vertretern und Vertreterinnen der Gewerkschaften, welche die Hälfte der Aufsichtsratssitze halten, sind daher harte Einschnitte kaum durchzusetzen. Stattdessen war man auf die Arbeitsplatzgarantie stolz, die 1994 ausgesprochen wurde.

Toyota arbeitet viel effektiver als Volkswagen

Die Krise bei VW hat ein Bündel von Ursachen, die in unterschiedlicher Ausprägung auch bei den anderen Herstellern zu sehen sind: ein schwacher europäischer Heimatmarkt, was lange von blendenden Verkaufszahlen in China überdeckt wurde, die nun aber sinken. Hinzu gesellt sich die teure Wende in Richtung E-Mobilität, die Milliarden kostet, aber noch zu wenig einbringt. Und ein massives Kostenproblem. 

Und als ob die Lage nicht schon schwierig genug wäre, drohen jetzt auch noch Zölle im wichtigen US-Markt. Erhöht Trump sie von bisher 2,5 auf 12,5 Prozent, würde das den Vorsteuergewinn der deutschen Hersteller zwischen 11 und 15 Prozent senken, wie die Investmentbank Stifel errechnet hat. 

Wie gross der Kostennachteil bei VW jetzt schon ist, lässt sich an einfachen Zahlen zeigen: 2023 beschäftigte VW rund 680’000 Mitarbeitende und verkaufte 8,9 Millionen Autos. Toyota kam auf 11,2 Millionen Autos – und brauchte dazu nur 270’000 Mitarbeitende.

Die Probleme fangen nicht nur bei den Kosten vor der Haustür an: «Der europäische Markt hat derzeit ein Volumen, das 2 bis 3 Millionen Einheiten unter den Absatzniveaus der Vor-Corona-Zeit liegt», rechnet Matthias Schmidt von Schmidt Automotive Research vor. Und jedes vierte in Europa verkaufte Auto stammt vom Volkswagen-Konzern. Daher verkauft der Wolfsburger Riese in Europa 500’000 Autos weniger, was ungefähr dem Ausstoss von zwei Werken entspricht.

Das war nicht weiter dramatisch, solange die Geschäfte in China brummten. Im zweiten Halbjahr 2022 erzielten die deutschen Hersteller rund 40 Prozent ihres Umsatzes in China. Doch die Wirtschaftskrise im grössten Automarkt der Welt lässt auch dort die Verkäufe von Premiumautos einbrechen, auch von Verbrennern. 

Deutsche E-Autos sind zu teuer

Und im Falle von E-Autos gelten deutsche Produkte im Vergleich zu chinesischen Fabrikaten generell nicht als wettbewerbsfähig. Die Chinesen sind nicht nur besser bei Batterien und Software, mittlerweile ist auch ihre Fertigungsqualität zum Teil auf Premiumniveau. Infolgedessen sank der Marktanteil deutscher Hersteller von 25 Prozent im Jahr 2020 auf nur noch 15 Prozent in diesem Jahr. Die Gewinne von VW im China-Geschäft haben sich halbiert. «Das China-Geschäft ist nicht mehr in der Lage, die europäischen Risse zuzukleistern», sagt Experte Schmidt.

Auch in Europa haben die deutschen Hersteller ihre liebe Not, die E-Autos zu verkaufen: Zu teuer für zu wenig Reichweite, lautet oft das Verdikt des Publikums. Nach dem Dieselskandal hatte der frühere VW-Chef Herbert Diess mit Macht in die E-Wende investiert. Und Mercedes-Chef Ola Källenius setzte ganz auf Luxusautos, gerne auch mit E-Antrieb. BMW legte sich hingegen nie so einseitig fest und überlässt der Kundschaft die Wahl des Antriebs – eine Strategie, auf die nun auch Mercedes umschwenkt. 

In Sachen Autobau sind die Deutschen Weltmeister bei der präzisen Fertigung: Symbol dieses Qualitätsanspruchs ist das Spaltmass, also der Abstand zwischen benachbarten Bauteilen wie Motorhaube und Kotflügel. 

Softwareprobleme bremsen Modelloffensive aus

Doch beim Softwareprogrammieren hapert es. Auch hier überstrahlte VW mit einem Riesenflop alle: Der frühere VW-Chef Diess wollte die Software zentral für alle Marken von der hauseigenen Softwaretochter Cariad programmieren lassen. Doch die 10’000 Softwareexperten der Cariad produzierten vor allem Probleme, sodass zum Beispiel Audi drei Jahre lang kein einziges neues Modell auf die Strasse brachte. Das Softwaredesaster kostete Diess den Job, mit der Beteiligung am US-Unternehmen Rivian will sich Nachfolger Blume nun bessere IT-Kompetenz ins Haus holen. 

Er will bei VW aber nicht nur sparen, sondern das Unternehmen auch mit einer neuen Strategie aus der Misere führen. Am Verbrenner-Aus rüttelt er dabei nicht. Stattdessen soll VW in zehn Jahren zum führenden Technologiekonzern der Automobilwelt werden, der Software, Batterien und die gesamte Plattformentwicklung beherrscht, wie das «Handelsblatt» jüngst aus einem Strategiepapier zitierte.

Letzte Chance für die Wende?

Auch Analyst Schmidt warnt davor, VW abzuschreiben. VW verfüge immer noch über eine solide Marktstellung in Europa. Zudem hat der Konzern Barmittel von zuletzt 34,4 Milliarden Euro in der Bilanz und damit ein Krisenpolster. 

Ohnehin ist diese Krise nicht die erste: In der Rezession von 1993 reichten die Arbeitnehmendenvertreter Hand zu einem 12-prozentigen Gehaltsverzicht und zur Einführung der Viertagewoche. Aber VW-Finanzchef Arno Antlitz warnt: «Wir haben noch ein, vielleicht zwei Jahre, um die Wende zu schaffen.»

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