Schweizer Stahlwerke kämpfen ums Überleben – Büezer bangen
Rettet unsere Jobs!

Die letzten beiden Stahlwerke in der Schweiz, Emmenbrücke LU und Gerlafingen SO, kämpfen ums Überleben. Hohe Energiekosten und schwächelnde Abnehmerbranchen setzen ihnen zu. Arbeiter und Politiker fordern nun dringend Massnahmen zur Rettung der Arbeitsplätze.
Publiziert: 22.10.2024 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 15.11.2024 um 07:18 Uhr
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Die Schweizer Stahlindustrie steckt in der Krise. Der Grund: schwächelnde Absatzbranchen und hohe Energiekosten.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

  • Schweizer Stahlwerke kämpfen ums Überleben
  • Hohe Energiekosten und Netzgebühren belasten die Branche
  • Die Büezer aus Gerlafingen fordern auf dem Bundesplatz die Rettung ihrer Jobs
  • Druck auf Wirtschaftsminister Parmelin steigt
  • Swiss Steel Aktie verlor am Montag über 20 Prozent
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

In der Schweizer Stahlbranche brodelt es: Die beiden letzten Stahlwerke in der Schweiz kämpfen ums Überleben. Das eine in Emmenbrücke LU gehört zur Swiss Steel Gruppe, das andere in Gerlafingen SO ist Teil der italienischen Beltrame Gruppe. Das Problem: Die europäische Autobranche kriselt, die Maschinenindustrie darbt, im Land wird zu wenig gebaut.

Diese Branchen gehören zu den Hauptabnehmern der beiden Stahlwerke in der Schweiz. Wobei Emmenbrücke vor allem für die Automobilindustrie und die Maschinenbauer produziert, während der beste Kunde von Gerlafingen die Bauindustrie ist.

Hochwertiger Stahl aus der Schweiz hat seinen Preis, die Konkurrenz aus Europa kann meist günstiger produzieren. Auch wegen bedeutend tieferer Energiekosten – ein wichtiger Kostenfaktor in der stromintensiven Stahlbranche. Vor zehn Tagen hat sich Antonio Beltrame, der Besitzer des Stahlwerks in Gerlafingen, in der «NZZ am Sonntag» bitterlich über die Stromkosten in der Schweiz beklagt. Ein besonderer Dorn im Auge sind Beltrame die Netzgebühren, für die das Werk allein in diesem Jahr 17 Millionen Franken bezahlt hat.

Systemrelevant – oder doch nicht?

Nicht nur der Patron hat genug, auch den Stahlkochern reicht es. Am Montag sind viele der Büezer vor das Bundeshaus in Bern gezogen und haben von der Politik gefordert, dass ihre Arbeitsplätze gerettet werden. Viele sind davon nicht mehr übrig, im Frühling kam es zu 60 Entlassungen, weil eines der beiden Walzwerke stillgelegt wurde. Vor ein paar Tagen folgte die nächste Hiobsbotschaft: Weitere 120 Stellen werden im Kanton Solothurn abgebaut. Auch die restlichen gut 500 Jobs in Gerlafingen stehen auf der Kippe. Im Moment ist die gesamte Belegschaft auf Kurzarbeit, die Stahlöfen sind erkaltet – zumindest bis Ende Oktober.

Martin Dauwalder (50) arbeitet seit über 30 Jahren bei Stahl Gerlafingen. Er steht in voller Stahlkochermontur auf dem Bundesplatz und fordert: «Die Politik muss jetzt vorwärtsmachen bei der Umsetzung der Klimagesetzgebung. Zudem müssen die Netzabgabengebühren heruntergesetzt werden. Es kann doch nicht sein, dass wir in der Schweiz dreimal mehr bezahlen, als dies im Ausland der Fall ist.» Und Kollege Jörg Zielke (52), auch bald 30 Jahre im Werk, ergänzt gegenüber Blick: «Wir setzen jährlich über 700’000 Tonnen Stahl um. Woher sollen dann die Armierungseisen für den Bau kommen, wenn diese Produktion wegfällt? Wir sind systemrelevant.»

Eine Aussage, die SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin (64) noch im Frühling verneinte. Allerdings steigt nun der politische Druck, auch aus der eigenen Partei, das Werk in Gerlafingen zu retten.

Wichtig für die Kreislaufwirtschaft

Druck machen auch die Arbeiter vor dem Bundeshaus: «Die Politik muss sich jetzt hinter uns stellen», fordert Rudaj Fehmi (42). «Wir wollen unsere Arbeitsplätze retten. Damit Familienmütter und -väter nicht auf der Strasse landen. Dafür muss die Politik sicherstellen, dass Stahl Gerlafingen in der Schweiz bleibt», erklärt Bundu Mvumbi (50). Denn sonst «müsste unser Stahlschrott fürs Recycling ins Ausland transportiert und Produkte über längere Wege eingekauft werden», gibt Schichtführer Christian Künzi zu bedenken.

Es geht beim bedrohten Stahlwerk nicht nur um Energie- und Wirtschaftspolitik, es geht auch um die Umwelt. Gerlafingen galt noch im vergangenen Jahrhundert als eine der grössten Dreckschleudern der Schweizer Industrie, heute gehört das Werk zu den klimafreundlichsten in Europa. Zudem spielt der dort eingeschmolzene Stahlschrott eine wichtige Rolle in der ökologisch gewünschten Kreislaufwirtschaft.

Wie man ein Stahlwerk rettet, weiss keiner besser als Roberto Zanetti (69). «Toll, dass das Werk bei uns bleibt. Für unsere Gemeinde wäre die Schliessung eine Katastrophe gewesen», sagte der damalige Gemeindepräsident von Gerlafingen 1997 zu Blick. Heute kämpft alt SP-Ständerat Zanetti wieder um das Werk, das ihn ein Leben lang begleitete. «Seit ich politisiere, setze ich mich für das Unternehmen ein. Es ist wichtig, dass die Wirtschaftskommission des Ständerats nun die Motion ‹Soforthilfe für Stahl Gerlafingen› traktandiert und möglichst noch in der Wintersession ins Parlament bringt.»

Swiss Steel braucht dringend Geld

Eine Massnahme wäre eine deutliche Senkung der Netzgebühren. Immerhin: Der Bundesrat hat bereits eine neue Berechnungsformel in die Vernehmlassung geschickt, um die grossen Stromverbraucher – wie die beiden letzten Stahlkocher – in der Schweiz zu entlasten.

Diese Entlastung könnte auch Swiss Steel gut gebrauchen. Auch wenn die Probleme hier nicht allein in der Schweiz, sondern vor allem in Deutschland liegen. Die meisten der 7500 Angestellten der Swiss Steel Group sind mittlerweile in Kurzarbeit, dem Konzern droht das Geld auszugehen. Das hätte auch Folgen für die Stahlproduktion in Emmenbrücke. Die Aktionäre beurteilen die Zukunft des Konzerns kritisch, die Aktie verlor am Montag zeitweise über 20 Prozent an Wert.

Mit 100 Millionen Franken ist Swiss Steel an der Börse heute fünfmal weniger wert als noch vor einem halben Jahr. Letztlich ist für das Schicksal von Swiss Steel entscheidend, ob Hauptaktionär Martin Haefner (70) noch mal bereit ist, viel Geld in die Sanierung der Gruppe zu stecken. Ansonsten ist der Ofen aus.

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