Das Jahr begann für die beiden Trachtenschneiderinnen Caroline (36) und Annemarie Wittwer (60) vielversprechend. Sie sind ein eingespieltes Duo, Mutter und Tochter, seit Jahren im Beruf vereint. Ein «Bombenjahr» hätten sie erwartet, sagt Caroline Wittwer.
Es kam anders. Die Corona-Pandemie hat ihr Geschäft in Suberg BE gelähmt. Die Lehrtochter muss zu Hause bleiben. Zwei Teilzeitangestellte sind in Kurzarbeit. Caroline verbringt die Hälfte der Woche mit Papierkrieg. Ein Behördentelefon jagt das andere. «Wir sind am Limit», sagt Caroline. «Uns geht es an den Kragen.»
Es droht ein Verlust von Tradition. Viele Trachtenschneiderinnen gibt es nicht mehr. Nur ein paar Dutzend Personen haben die Ausbildung absolviert und dürfen die Kluft herstellen. Es ist eine Welt für sich, mit einem ganz eigenen Vokabular und klaren Regeln, die seit Jahrzehnten gleich sind. Zur Tracht gehört das Cöller, der Rock ist ein Kittel, das Jackett ein Mutz, das bestickte Mieder macht die Müngertracht sonntagstauglich.
Aus Liebe zur Tradition
25 bis 30 Franken Stundenlohn berechnen sich die beiden Schneiderinnen für ihre Arbeit. An den einfacheren Stickereien auf der Bluse arbeiten sie bis zu sechs Stunden. An einem Mieder für die bernische Müngertracht sitzen sie eine Woche lang mit Nadel und Faden im Atelier. Fast alles ist Handarbeit. Nur zwei Stunden der Näharbeit passieren an der Maschine.
Der Beruf ist den beiden Berufung. Reich werden sie dabei nicht. «Wir machen es aus Liebe zur Tradition», sagt Tochter Caroline, als BLICK sie vor Ort besucht. Sie hat vor knapp 20 Jahren eine Lehre als Verkäuferin in der Damenoberbekleidung gemacht. Vor einigen Jahren begann sie die Zweitausbildung als Schneiderin, letztes Jahr schloss sie die Spezialisierung als diplomierte Trachtenschneiderin ab. Nebenher hat sie mit ihrer Mutter eine Börse für traditionelle Kleidung aufgebaut.
Die Umsätze wuchsen Jahr für Jahr. Der Trend zum Heimeligen hat ihr Geschäft befeuert. Seit dem Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Burgdorf BE von 2013 verzeichnet das Duo einen anhaltenden Aufschwung. «Es gibt wieder mehr junge Frauen, die alphörneln oder jodeln», sagt Mutter Annemarie. «Mit dem Eidgenössischen Jodlerfest in Basel haben wir in diesem Jahr einen weiteren Schub erwartet», ergänzt Tochter Caroline.
Seit Monaten keine Miete bezahlt
Das Jodlerfest wurde aber verschoben. Vorerst auf 2021. Ob es in einigen Monaten wirklich stattfinden kann, ist unklar. Für die Schneiderinnen heisst das: Ihre Kunden bleiben weg. Es gibt keine kleinen Änderungen, die gemacht werden müssen. Kein Secondhand-Business, keine Neuanfertigungen. Die Kasse bleibt leer. «Wir haben seit Monaten keine Miete mehr bezahlen können», so das Mutter-Tochter-Duo.
Schlimmer noch: Die Misere der Schneiderinnen hat Auswirkungen auf den letzten Schweizer Hersteller von Trachtenstoffen. Dieser ist im bernischen Herzogenbuchsee beheimatet und wird in zehnter Generation von Hans-Jörg Moser (49) geführt. Eigentlich wollte Moser in diesem Jahr Jubiläum feiern. Die Gründung des Familienunternehmens datiert auf 1720. Jahrelang plante er die Festivitäten. Jetzt ist alles abgesagt.
«Es ist hart», sagt Moser. Die Weberei stehe seit einem halben Jahr still. In der Krise sei auch sein zweites Standbein, die Fahnenstoffproduktion. «Wenn die Pandemie noch lange andauert, wirds bei uns sehr eng», sagt er. Vier Angestellte beschäftigt er. «Wenn wir schliessen, hat das weitreichende Auswirkungen auf das Trachtenwesen.»
Das sehen auch die beiden Schneiderinnen so. Sie hoffen auf eine baldige Wende. In der Zwischenzeit behelfen sie sich damit, dass sie Taschen für Masken nähen.
Caroline Wittwer plant einen Aufruf an alle Jodler-Vereine der Region. «Wir machen auch kleine Arbeiten», sagt sie. Das alles bleibt aber ein Tropfen auf den heissen Stein. Den beiden droht das gleiche Schicksal wie der Schildkröte, die auf ihrem Balkon ist: ein Erstarren in den kalten Monaten, um im Frühjahr hoffentlich wieder loslegen zu können.
Noch immer sind Hunderttausende Arbeitnehmer in der Schweiz auf Kurzarbeit. Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung, zum Beispiel GmbH-Gesellschafter, haben aber längst keinen Anspruch mehr auf Kurzarbeitsentschädigung. Dieser galt nur während der ausserordentlichen Lage bis Ende Mai 2020. Inhaber einer GmbH, die im eigenen Betrieb angestellt sind, wie das Mutter-Tochter-Duo Wittwer und ihr Trachtenatelier, haben allenfalls Anspruch auf eine Entschädigung auf Basis des Covid-19-Gesetzes. Die entsprechende Verordnung des Bundesrates ging Anfang November in die Vernehmlassung. Der Ausgang ist offen. Ziel ist es, dass ab Januar vom Bund und vom Kanton Gelder an sogenannte Härtefälle ausbezahlt werden sollen.
Noch immer sind Hunderttausende Arbeitnehmer in der Schweiz auf Kurzarbeit. Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung, zum Beispiel GmbH-Gesellschafter, haben aber längst keinen Anspruch mehr auf Kurzarbeitsentschädigung. Dieser galt nur während der ausserordentlichen Lage bis Ende Mai 2020. Inhaber einer GmbH, die im eigenen Betrieb angestellt sind, wie das Mutter-Tochter-Duo Wittwer und ihr Trachtenatelier, haben allenfalls Anspruch auf eine Entschädigung auf Basis des Covid-19-Gesetzes. Die entsprechende Verordnung des Bundesrates ging Anfang November in die Vernehmlassung. Der Ausgang ist offen. Ziel ist es, dass ab Januar vom Bund und vom Kanton Gelder an sogenannte Härtefälle ausbezahlt werden sollen.