Die neue Lust am Zugfahren hat die Schweiz erfasst. Nach zwei Jahren Pandemie und Sommer-Chaos an europäischen Flughäfen werde die Bahn für viele zur stressfreien und klimafreundlicheren Alternative, sagt Linus Looser (42). Bei einem Redaktionsbesuch nimmt sich das Konzernleitungsmitglied der SBB Zeit, um brandaktuelle Fragen zum Personenverkehr zu beantworten.
Blick: Auf europäischen Flughäfen herrscht Chaos. Nehmen die Reisenden jetzt mehr den Zug?
Linus Looser: Wir merken, dass die Nachfrage im internationalen Bahnfernverkehr stark anzieht. Wir sind praktisch wieder auf dem Rekordniveau von 2019.
Leider sind viele Verbindungen ins Ausland derzeit ausgebucht.
Wir haben sehr gute Buchungsstände. Im Sommer sind die Nachtzüge an bestimmten Tagen komplett ausgebucht. Darum empfehlen wir Reisenden, unter der Woche zu reisen, zum Beispiel dienstags oder mittwochs, weil die Wochenenden immer besonders gut gebucht sind.
Ist es richtig, dass es Liegewagen-Tickets für Nachtzüge nach Hamburg oder Berlin schon seit dem Frühling nicht mehr für den Sommer und gar den Herbst gibt?
Weil das Klassiker unter den Fernreisezielen in den Norden Deutschland sind, sind bis Mitte August praktisch alle Plätze komplett ausgebucht. Ab Mitte Oktober sind an alle Destinationen wieder Plätze frei.
Können Sie da nicht einfach ein paar Waggons mehr anhängen, damit alle Platz haben?
Aktuell sind alle verfügbaren Schlaf- und Liegewagen im Einsatz, weshalb wir kurzfristig nicht auf die vorhandene Nachfrage reagieren können. Zudem fahren wir durch verschiedene Länder mit unterschiedlich langen Perrons. Deshalb ist die maximale Länge der Züge vorgegeben.
Warum bauen Sie das Angebot nicht mit mehr Verbindungen aus?
Die Zahlen sind erfreulich, darum verstärken wir das Angebot nach Hamburg und Berlin per Fahrplanwechsel 2022/23 mit zusätzlichen Kapazitäten. Dann lancieren wir auch ein neues Angebot über Leipzig, Dresden bis nach Prag. Im Jahr 2024 bringen wir zusammen mit den Österreichischen Bundesbahnen ÖBB neue Nachtzüge auf die Schiene. Weil die Finanzierung noch ungelöst ist, gibt es bis auf weiteres noch kein Nachtzug-Angebot nach Rom und Barcelona.
Und wie bauen Sie im Inland aus?
Wir bieten im kommenden Jahr an den Wochenenden einen Direktzug Genf–Chur an, der die Westschweiz mit Graubünden verbindet. Im Sommer passen wir das Angebot am Gotthard an, sodass wir freitags mehr Züge ins Tessin haben und am Sonntag wieder zurück. Wir werden auch die Ostschweiz direkt an Interlaken anschliessen und uns so auf die neuen Bedürfnisse im Freizeitverkehr einstellen.
Das knappe Angebot ist das eine. Viele scheitern bereits beim Buchen von Fernreisen auf der SBB-Website. Warum ist das so kompliziert?
Wir sind mit dem aktuellen Buchungssystem auch noch nicht zufrieden. Der Ticketkauf ist dort echt eine Herausforderung. Das liegt daran, dass jedes Land ein eigenes Vertriebssystem unterhält. Man ist jetzt aber dran, eine einzige, integrierte Plattform zu schaffen.
Wer im Netz scheitert, muss an den Schalter. Doch gerade jetzt forcieren Sie deren Abbau. Macht das Sinn?
Es ist ja nicht so, dass wir jetzt gar keine Beratungsleistungen mehr anbieten. Kundenberatung und -begleitung ist und bleibt für uns ganz wichtig. Wir sehen aber auch, dass nur noch rund fünf Prozent aller Billette am Schalter gelöst werden. Der Rest wird online oder über Billettautomaten verkauft. Nicht einfach lösbare Billette und Beratungen gibt es weiter in unseren Reisezentren.
Bis zum nächsten Reisezentrum müssen Kunden aber weitere Wege auf sich nehmen.
Das kann durchaus sein. Wir können uns aber den Marktgegebenheiten nicht verschliessen. Wer den Weg zu einem Reisezentrum nicht auf sich nehmen will, kann sich an unser Hotline-Zentrum in Brig rund um die Uhr telefonisch wenden, dort seine Fahrkarten kaufen und sich kostenlos nach Hause schicken lassen.
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Wie viele bediente Schalter haben Sie Ende Jahr noch?
Derzeit betreiben wir rund 140 Reisezentren. Wir stellen fest, dass die Kundschaft vermehrt in grössere Zentren geht, weil wir dort auch längere Öffnungszeiten und Beratung zu Randzeiten anbieten können. Das Filialnetz wird laufend überprüft. Wo die Nachfrage abnimmt, prüfen wir die Umwandlung in Stationen mit Selbstbedienung im Gespräch mit den Kantonen. Per Ende Jahr werden wir voraussichtlich noch 130 bediente Schalter haben.
Wer einen Sitzplatz in einem Speisewagen reservieren will, muss das aber über den Schalter machen, weil es online noch nicht geht.
Das ist richtig, man kann einen Platz im Speisewagen aber auch per Telefon über das Contact Center reservieren. Aber wir sind am Aufbau und an der Einführung eines neuen Reservationssystems. Unser Ziel ist eine deutliche Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit, sodass zum Beispiel Reservation und Billette in einem Schritt gekauft werden können und Stornierungen möglich sind.
Wie lange müssen wir darauf warten?
Die Optimierungen inklusive des neuen Reservationssystems kommen in Etappen. Auf die neue Velosaison hin im Jahr 2023 wird es erste Verbesserungen geben, die zweite Etappe dann Ende 2023.
Internationale Billette lassen sich auch noch nicht über die SBB-App reservieren und buchen. Wann ist das möglich?
Ende 2023 werden wir auf Sbb.ch die Destinationen Deutschland und Frankreich online im neuen System buchbar haben, danach folgen Italien und Österreich inklusive Nachtzüge. An die Anbindung der App arbeiten wir ebenfalls mit Hochdruck.
Der SBB-Webshop gilt als veraltet, Preisvergleiche sind nicht möglich. Ihr Chef, Vincent Ducrot, bezeichnet das internationale Ticketing als Schwachpunkt ...
Ich kann Ihnen versichern, dass wir beim Thema internationales Ticketing mit Hochdruck dran sind. Die neue Plattform ist für Frankreich-Reisen und für die Suche nach Sparpreisen nach Deutschland bereits aktiv. Zusätzlich wird derzeit daran gearbeitet, die «ab Preis»-Funktion bei einer Fahrplansuche für Frankreich und Deutschland zu aktivieren. Dies ermöglicht es den Kunden, nach einer Fahrplanabfrage direkt die jeweils günstigsten verfügbaren Preise für die angefragte Verbindung zu sehen.
Das Bundeslager der Pfadfinder steht an, weitere Events folgen. Sind Sie auf den Extraverkehr vorbereitet?
Wir haben diesen Sommer eine Festhütte Schweiz und bringen deshalb 700 Extrazüge aufs Gleis. Nicht nur für den Grossevent Bula, sondern auch das Schwing- und Älplerfest, Swiss Skills in Bern und die Unihockey-Weltmeisterschaft. Das wird ein intensiver Sommer für uns als SBB.
Fehlen Ihnen dafür nicht die Lokführerinnen und Lokführer?
Die Engpässe der Vergangenheit sind zum Glück Geschichte. Wir haben wieder genug Lokpersonal, die Ausbildungsplätze sind voll besetzt. An Spitzentagen und bei 130 Extrazügen allein für das Bula müssen wir natürlich immer noch suchen und schauen, genug Personal zusammenziehen zu können.
Haben die Energiekrise und Verteuerung der Ersatzteile für das Rollmaterial Auswirkungen auf das Jahresresultat der Bahn?
Auf jeden Fall. Weil die Lieferketten nicht richtig greifen, haben wir uns bewusst entschieden, unsere Ersatzteillager, zum Beispiel Radsets aus Stahl, zu füllen. Die Sicherung der Verfügbarkeit hat aber ihren Preis. Die Rohstoffverteuerung ebenso. Für das Gesamtjahr rechnen wir nicht mit tiefroten Zahlen, aber einen Verlust wird es wohl geben. Unsere finanzielle Situation ist nach wie vor sehr angespannt.