«Ich bekomme komische Blicke, wenn ich russisch rede»
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Russin Jane Nemykina:«Ich bekomme komische Blicke, wenn ich russisch rede»

Russen-Hass statt Putin-Boykott
Schweizer Arzt verweigert russischem HIV-Patienten die Behandlung

Kranke, denen Mediziner aufgrund der Nationalität nicht helfen; Kinder, die wegen ihrer Herkunft gemobbt werden; Eingereiste, die sich fürchten, ihre Muttersprache zu sprechen. Russen fühlen sich hierzulande zunehmend unwohl.
Publiziert: 06.03.2022 um 12:11 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 12:35 Uhr
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Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine führt in der Schweiz zu zunehmender Russenfeindlichkeit.
Foto: EPA
Thomas Schlittler

Andrei P.* lebt in Moskau. Der 50-Jährige Russe ist schwul und HIV-positiv – beides wird in Wladimir Putins (69) Russland nicht gern gesehen. Damit er in der nationalen Gesundheitsdatenbank nicht als HIV-Patient vermerkt wird und um die bestmögliche Therapie zu erhalten, lässt sich Andrei seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz behandeln. Genauer gesagt bei einem Infektiologen* in der Zürcher Klinik Hirslanden.

Diese Woche nun bat Andrei P. bei dem Mediziner um einen neuen Termin und die Erneuerung seines Rezepts, wie schon so oft. Der aber teilte Andrei P. mit, es sei das letzte Mal, dass er ihm ein Rezept ausstelle. In Zukunft werde er keine russischen Patienten mehr behandeln, Andrei P. müsse sich einen neuen Arzt suchen.

Für Andrei P. ein Schock. Eine moderne HIV-Therapie ist in Moskau nicht möglich. Zudem sind die besten Medikamente zur Bekämpfung des Virus dort nicht erhältlich. Dem erfahrenen Infektiologen müssen diese Umstände bekannt sein.

SonntagsBlick konfrontierte ihn und die Klinik deshalb mit dem Sachverhalt. Ein Sprecher bestätigt stellvertretend für beide: «Unser geschätzter Partnerarzt hat sich aus persönlichen Gründen entschieden, während des laufenden Krieges keine in Russland wohnhaften Patientinnen und Patienten zu behandeln, dies gilt unabhängig vom erwähnten Fall.» Patienten in «akuter gesundheitlicher Gefahr» würden die Hirslanden-Ärzte aber «selbstverständlich» helfen, «unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Nationalität».

Russen fühlen sich in ihrer Haut nicht mehr wohl

Ein Schweizer Arzt verweigert seinem Patienten die Behandlung, weil der die falsche Nationalität hat – und sein Partnerunternehmen, die wohl renommierteste Privatklinikgruppe der Schweiz, verteidigt dieses Vorgehen.

Bis vor wenigen Tagen wäre so etwas undenkbar gewesen. Doch seit Putin die Ukraine überfallen hat, ist kaum mehr etwas, wie es war. Das gilt in erster Linie für die ukrainische Bevölkerung, die unter dem Angriffskrieg leidet. Es gilt aber auch für Russinnen und Russen, die in der Schweiz leben. Sie berichten vermehrt, dass sie sich in ihrer Haut nicht mehr wohlfühlen.

So etwa Jane Nemykina (35), Bankerin und Stiftungsrätin einer Non-Profit-Organisation, die sich für geschäftliche und kulturelle Beziehungen zwischen den beiden Ländern einsetzt. Sie ist in Russland geboren, in Hamburg (D) aufgewachsen und lebt seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz.

Sorgen um das Zusammenleben in der Schweiz

Nemykina hat beruflich wie privat enge Kontakte in die Ukraine und nach Russland. Vom Krieg hat sie erfahren, bevor es in der Schweiz in den Nachrichten zu hören war. «Eine Bekannte in der Ukraine hat mich angerufen und gesagt: ‹Wir werden bombardiert.› Ich war schockiert, ich hätte das nie für möglich gehalten!»

Das Vorgehen des russischen Präsidenten verurteilt sie ohne Wenn und Aber: «Wladimir Putin bringt durch seinen Angriff täglich unschuldige Menschen um ihr Leben. Das ist durch nichts zu rechtfertigen.»

Nemykinas Gedanken sind in erster Linie bei der ukrainischen Bevölkerung. Sie macht sich aber auch Sorgen um das Zusammenleben in der Schweiz: «Es entsteht gerade ein Hass gegen alles Russische. Als Betroffene spürt man das sofort. Ich habe grosse Bedenken, im ÖV oder im Restaurant das Telefon abzunehmen – die Blicke und Reaktionen, wenn ich Russisch spreche, sind mir unangenehm.» Schon zweimal sei sie von Wildfremden gefragt worden, ob sie aus Russland oder der Ukraine komme, als sie in der Öffentlichkeit telefonierte. «Das war sehr komisch.»

In der Schule gemobbt

Svetlana Chiriaeva (51), Präsidentin der Handelskammer Schweiz-Russland, beobachtet ebenfalls, dass in der Schweiz eine allgemeine Russenfeindlichkeit «salonfähig» werde: «Eine ältere Dame hat mir erzählt, dass ihr jemand vor die Füsse gespuckt habe, weil sie im Zug russisch gesprochen habe. Und Eltern erzählen von ihren Kindern, die in der Schule gemobbt werden, weil sie russischstämmig sind. Diese Entwicklung macht nachdenklich und traurig.»

Chiriaeva findet es deshalb wichtig, dass nun nicht sämtliche Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland abgebrochen werden. «Die Menschen müssen weiterhin miteinander reden und in Kontakt bleiben, damit die Möglichkeit besteht, dass wir irgendwann wieder zur Normalität zurückkehren können.» Es sei schliesslich nicht das russische Volk, das diesen Angriff befohlen habe – schon gar nicht seien es die Russinnen und Russen in der Schweiz.

Kritisch sehen die Frauen in diesem Zusammenhang auch einen Teil der Massnahmen, die in den vergangenen Tagen beschlossen wurden. «Sanktionen gegen Putin, seine Gefolgsleute und die Oligarchen sind verständlich und nachvollziehbar», sagt Jane Nemykina.

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Im Zweifel gegen eine Behandlung

Einen Teil der Sanktionen finde sie aber falsch, weil davon nur normale Leute betroffen seien, die für den Krieg nichts könnten. So werde ihr zum Beispiel praktisch unmöglich gemacht, ihren Vater zu besuchen, der in Moskau lebt – selbst wenn dieser krank werden sollte. «Ich kann ihm nicht einmal ein Päckchen oder Medizin schicken.» Problematisch findet sie auch manche Boykottmassnahmen: «Dass man Russland wichtige Grossveranstaltungen wie den Champions-League-Final entzieht, leuchtet ein. Nicht in Ordnung ist es aber, wenn Behindertensportler nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen, nur weil sie aus Russland stammen.»

Ebenfalls falsch sei es, russische Musiker, Künstler und Sportler dazu zu drängen, Putin öffentlich zu kritisieren – selbst wenn sie sich klar gegen den Krieg geäussert hätten. «All diese Menschen haben Angehörige und Freunde in Russland. Diese geraten unter Umständen in Gefahr oder erleiden Nachteile, sollte Putin nach der Invasion der Ukraine immer noch Präsident bleiben.» Das habe nichts mehr mit Solidarität gegenüber der Ukraine zu tun.

Die Art und Weise, wie die Hirslanden-Gruppe ihre Solidarität mit der Ukraine ausdrückt, ist mehr als fragwürdig. Die Klinik, die in den vergangenen Jahren alles getan hat, um reiche Russen anzuziehen, lässt nun verlauten: «Die humanitäre Krise in der Ukraine versetzt uns in die schwierige Lage, zwischen sanktionierten Personen und russischen Patientinnen, die wir selbstverständlich in keiner Weise diskriminieren wollen, zu unterscheiden.»

Der Fall von Andrei P. zeigt: Im Zweifelsfall entscheidet sich die Klinik offenbar gegen eine Behandlung. Und das, obwohl Schwule, die an einer HIV-Infektion leiden, eher nicht zu typischen Putin-Unterstützern zählen dürften.

*Namen der Redaktion bekannt

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