«Wir sind froh, dass wir in Sicherheit sind»
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Flüchtlingsfamilie in Bern:«Wir sind froh, dass wir in Sicherheit sind»

Von Kiew nach Köniz
Familie Gaisonoks Flucht in die Schweiz

Die ersten Ukraine-Flüchtlinge sind angekommen, wie Familie Gaisonok, die über Nacht flüchten musste: Was nimmt man mit, wie kommt man raus, wo geht man hin?
Publiziert: 06.03.2022 um 01:12 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 09:08 Uhr
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Köniz statt Kiew: Dymtro, Valeria, Anastasia, Katja, Nika und Natalia (v.l.).
Foto: Nathalie Taiana
Tobias Marti

Natalia Gaisonok schreckt aus ihrem Bett hoch. Noch nie zuvor hat sie eine Explosion gehört. Aber das war gerade eine, da ist sie sicher.

Es ist fünf Uhr morgens in einem Vorort von Kiew. Jener Donnerstag war als ganz normaler Alltag geplant: Schule, Arbeit, Einkaufen. Nur: Diesen Alltag, dieses Leben gibt es nicht mehr.

Eine Woche später sitzt Familie Gaisonok an einem Esstisch in der Schweiz. Köniz BE statt Kiew, über 2000 Kilometer entfernt von daheim. Natalia (37), Dymtro (41), Valeria (13), Katja (10) und Nika (2) sind nun Flüchtlinge. Sie gehören zu den ersten in der Schweiz.

Nach den Bomben die Nachrichten

Die kleine Nika turnt auf dem Sofa, wirft die Fernbedienung herunter und schaut keck. «Wir flohen ihr zuliebe», erklärt die Mutter. Nika ist krank und braucht Medikamente, die in einer belagerten Stadt nicht aufzutreiben sind.

Nach den Bomben kamen die Nachrichten. Von überall erreichen sie die Familie, auch aus dem Ausland. «Kommt zu uns in die Schweiz», schreibt Alex Kyryliuk, jener Verwandte, in dessen Könizer Wohnung nun alle campieren.

Doch erst einmal harrt die Familie aus. Anastasia (20), eine Nichte aus Dnipro, die in Kiew studiert, sowie Dymtro Gaisonoks Bruder samt Familie flüchten aus der Innenstadt zu ihnen. Die Familie des Bruders hielt es im 22. Stockwerk nicht mehr aus. Ihr Hochhaus schwankte unter den Explosionen wie ein Schilfrohr.

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Um 4.30 Uhr zerreisst eine Explosion den Nachthimmel

Es ist spät am Nachmittag. In der Stadt kaufen die Menschen die Läden leer. An der Grenze staut sich der Verkehr. Wenn wir fliehen, was wird dann aus denen, die bleiben – Eltern, Hund, Katze?

Als sie die Älteren fragen, wollen die nicht mit, sie seien nicht jung genug, sprechen die fremden Sprachen nicht. Einen alten Baum verpflanze man nicht. Natalia Gaisonok zerreisst es das Herz.

In die Dunkelheit hinein will die Familie nicht aufbrechen – und bald ist Ausgangssperre. Also noch eine Nacht. Dann, um 4.30 Uhr, zerreists eine Explosion den Nachthimmel. Natalia Gaisonok packt die Kinder, stürzt in den Keller.

Im Slalom um die Panzersperren

Die Kanonen der ukrainischen Fliegerabwehr feuern über ihrem Haus auf einen russischen Bomber. Der Flieger kracht in die Nachbarschaft, auf Wohnhäuser wie ihres. Natalia Gaisonoks einziger Gedanke: «Wir sind nirgends sicher, wir müssen hier weg!»

Was nimmt man mit? Essen, Medizin, Fotos, eine Jacke, ein paar Schuhe. Was vergisst man? Alles andere: die Speicherdisk mit den Fotos, das Shampoo für die Kinder, das Schminktäschchen. «Ich war verloren», sagt die Mutter.

Um sieben Uhr ist die Ausgangssperre vorbei, sie fahren los. Neun Leute, verteilt auf zwei Autos. Kaum Verkehr, überall Panzersperren und Blockaden, im Slalom geht es drum herum. Niemand hindert sie an der Ausreise. In Polen wird die Grenze überrannt, darum wollen sie ihr Glück über Moldawien versuchen.

Weiter nach zwei Stunden Schlaf

Nach zwölf Stunden erreichen sie ihr Zwischenziel in der Mitte des Landes. Es ist die dritte Nacht des Krieges. Im Haus, wo sie untergebracht sind, suchen auch andere Familien Schutz. Als die Sirenen losheulen, erleidet ein Kleinkind eine Panikattacke. «Ich erlebte zwei Nächte in Kiew», sagt Natalia Gaisonok mit rot geweinten Augen: «Wie können die Menschen dort weitermachen?»

Sie ist Psychologin, spezialisiert auf pränatale Fälle, immer wieder melden sich Schwangere, die in die Kiewer Metro flüchten mussten. Manche gebären dort, andere wissen nicht, wie sie das Neugeborene versorgen sollen.

Nach zwei Stunden Schlaf geht es weiter Richtung Moldawien. Je näher die Grenze, desto mehr Checkpoints. Bis es heiss: Männer dürfen das Land nicht verlassen. Auch Väter müssen an die Front. «Ohne Mann und mit drei Kindern fliehen zu müssen, das war wie ein Schock», sagt Natalia Gaisonok.

Bruder muss zurückbleiben

Dann das Wunder: Väter von drei oder mehr Minderjährigen dürfen ausreisen. Glück für Dymtro Gaisonok, Pech für seinen Bruder. Der hat ein Kind. Und muss zurückbleiben. Der Krieg zerreisst Familien. Nun geht es zu acht in einem Wagen über die Grenze. Endlich in Sicherheit. Familie Gaisonok spricht Russisch. Natalia überkommt im Ausland ein neues, eigenartiges Gefühl. «Ich kann nicht mehr Russisch sprechen», sagt sie. «Was im Namen dieser Sprache geschieht, widert mich an.» Auch Appetit hat sie schon lange nicht mehr.

Auf dem Weg in die Schweiz übernachten sie bei freiwilligen Helfern. In München schlafen sie erstmals im Hotel. Endlich Haare waschen! Als ein Tram quietschend am Hotelfenster vorbeifährt, versetzt das Geräusch alle in Panik. Flashbacks aus dem Krieg.

Valeria Gaisonok sitzt am Esstisch in Köniz und redet wie ein kleiner General. «Niemand dachte, wir Ukrainer könnten auch nur einen Tag widerstehen», sagt der Teenager tapfer. «Jetzt wehren wir uns schon über eine Woche!»

Vater arbeitet bereits wieder

Dann empfängt Valeria eine Nachricht auf dem Mobiltelefon. Und wird wieder zur ganz normalen Jugendlichen mit verzweifelten Fragen, aber ohne jedes Pathos: «Werde ich meine Freunde wiedersehen, meine Lehrerin? Steht meine Schule noch?»

Natürlich schauen sie die schlimmen Nachrichten. Wie könnten sie anders. Jede Meldung über ein getötetes Kind erschüttert Natalia Gaisonok.

Dymtro Gaisonok ist ein schweigsamer Mann. Der IT-Spezialist arbeitet in Köniz bereits wieder. Im Homeoffice. Müde sei er. Sein Arbeitgeber wollte ihn nach Polen holen. Die Schweiz war ihm lieber. Er rechnet nicht mit einer baldigen Rückkehr. Unklar, wie lange sie bleiben werden. Oder dürfen.

Anastasia, die Nichte aus Dnipro, versucht jeden Morgen als Erstes, ihre Familie zu erreichen. Sie ist die Einzige, die fliehen konnte. Niemand dort hat einen Bunker. «Ich habe keine Worte», sagt sie und beginnt zu weinen. «Wir konnten Anastasia nicht allein zurücklassen», erklärt Natalia Gaisonok und streichelt ihre Schulter.

In den kommenden Tagen zieht die Familie in eine Wohnung von Bekannten. «Manchmal», sagt Natalia Gaisonok, «schäme ich mich.» Dafür, dass sie in der Schweiz sind. Dass sie in Sicherheit sind.

Da lacht die kleine Nika vor dem Fernseher. Und wer lacht, lebt.

Schweiz rechnet mit 20'000 Flüchtlingen

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe rechnet mit bis zu 20'000 Flüchtlingen aus der Ukraine. Der Bundesrat möchte den Menschen rasch und unbürokratisch Schutz gewähren. Dafür schlägt er vor, den Schutzstatus S zu aktivieren. Damit würden die Geflüchteten rasch ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz erhalten, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssten, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter diese Woche.

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