«Bomben fliegen über unsere Köpfe»
1:31
Hilferuf von Parlamentarierin:«Bomben fliegen über unsere Köpfe»

Ukrainische Politiker greifen zu den Waffen
«Wir werden bis zur letzten Seele kämpfen»

Selbstverteidigung. In Kiew und anderswo in der Ukraine tragen Abgeordnete Kalaschnikows, um ihr Land zu verteidigen. Zwei von ihnen erzählen.
Publiziert: 06.03.2022 um 14:01 Uhr
|
Aktualisiert: 06.03.2022 um 14:39 Uhr
1/6
Oleksii Goncharenko gehört zu einer kleinen Miliz aus Abgeordneten, die sich entschieden haben, die Hauptstadt zu verteidigen. Der 41-Jährige patrouilliert jeden Tag mit Gewehr und Granaten in seinem Viertel.
Sven Zaugg

«Wir werden unser Land nicht aufgeben und bis zur letzten Seele kämpfen. Wir werden leben.» Oleksii Goncharenko, Kiew, 4. März 2022.

Zu den Waffen! Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) rief die Zivilbevölkerung zur Verteidigung des Landes auf. Millionen folgen seinem Schlachtruf. Von Kiew bis Odessa bewaffnen sich die Einwohner mit Kalaschnikows, basteln Molotowcocktails, errichten Strassensperren.

Seit Beginn des Krieges steht SonntagsBlick mit zwei ukrainischen Parlamentariern in Kontakt, Oleksii Goncharenko und Inna Sowsun. Auch sie haben sich bewaffnet und im Zentrum Kiews eingebunkert. Noch wäre Zeit zu fliehen. «Niemals», sagt Goncharenko. «Wenn wir uns Putin nicht in den Weg stellen, wird Europa fallen.»

Tausende Kalaschnikows ausgegeben

Die Milizionäre posieren in den sozialen Medien, bevor sie in den Krieg ziehen – und ihr Leben riskieren. Tausende Kalaschnikows soll die Regierung in Kiew und anderen Landesteilen ausgegeben haben.

Oleksii Goncharenko gehört zu einer kleinen Miliz aus Abgeordneten. Sie sind entschlossen, die Hauptstadt zu verteidigen. Der 41-Jährige patrouilliert täglich mit Gewehr und Granaten in seinem Viertel. Immer auf der Hut vor Putins Schergen, die Kiew infiltriert haben, um Präsident Selenski und «hohe Tiere» zu jagen, wie Goncharenko sagt.

Bis letzte Woche sass er für die Mitte-rechts-Partei Europäische Solidarität im ukrainischen Parlament. Als der Krieg losbrach, wurde die Session abgebrochen. Er stand vor der Entscheidung: zurück nach Odessa zu seiner Familie oder bleiben und Kiew verteidigen.

Situation verschlechtert sich dramatisch

Goncharenko sagt: «Putin zerbombt unsere Städte, ermordet Frauen und Kinder, jeder Ukrainer würde ihn gerne töten. Ich bleibe.» Noch glaubt er an den Sieg. «Aber wir brauchen mehr Waffen und Munition, eine Flugverbotszone, härtere Sanktionen gegen Russland. Und wo sind die Kampfjets, die man uns versprochen hat?»

Die Lage in der Ukraine verschlechtert sich dramatisch, Tag für Tag. Die Städte Cherson und Charkiw sind gefallen, Mariupol ist eingekesselt. Russische Bomben haben Wohngebiete in den Vororten der Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt. Über eine Million Menschen sind auf der Flucht. Es werden immer mehr.

Und der Kampf um die Drei-Millionen-Metropole Kiew rückt immer näher. Die Stadt am Dnepr soll zu Putins grösstem Triumph werden. Koste es, was es wolle. Auch Goncharenkos Stimmung trübt sich ein. Er, der eigentlich redet wie ein Wasserfall, ringt um Worte.

Kampf um die freie Welt

«Wer weiss, wie lange wir noch Strom und Essen haben.» Ständig werde er gefragt, wann der Krieg nun endlich vorbei sei. Eine Antwort hat er nicht. Niemand hat sie. Er weiss nur: «Das ist der Dritte Weltkrieg. Jetzt bombardieren sie sogar unsere Kernkraftwerke», sagt Goncharenko mit müder Stimme.

«Kiew ist mein Zuhause, die Ukraine meine Heimat. Ich bleibe und tue, was ich kann. Putin lässt mir keine Wahl.» Inna Sowsun, Kiew, 5. März 2022.

Donnerstag: Abgeordnete, darunter die SonntagsBlick-Gesprächspartner Oleksii Goncharenko und Inna Sowsun, versammeln sich in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. In Reichweite der russischen Artillerie. Sie verabschieden Gesetze zur Verteidigung des Landes, sie singen die Nationalhymne und skandieren: «Ruhm der Ukraine! Ruhm unseren Helden!»

Fast zur gleichen Zeit tritt Selenski im Präsidentenpalast vor die Medien. Er sagt: «Wenn wir nicht mehr sind, Gott bewahre, dann werden Lettland, Litauen und Estland die Nächsten sein. Bis hin zur Berliner Mauer, glauben Sie mir.» Er ist sicher: In der Ukraine findet der Kampf um die freie Welt statt.

Heimat, die zur Hölle wurde

Das glaubt auch Inna Sowsun. Die ehemalige Bildungsministerin schickt SonntagsBlick ein Bild, aufgenommen vor wenigen Tagen. Es zeigt, wie sie am Laptop sitzt, neben ihr die Kalaschnikow. Im Parlament politisierte sie für die liberale Oppositionspartei Golos, an der Kyiv School of Economics lehrte sie. Das war ihr Leben vor dem Krieg.

Seit russische Panzer über die Grenze rollen, teilt die 37-Jährige der Welt via Twitter und internationale TV-Stationen unermüdlich mit, was in ihrer Heimat passiert. Eine Heimat, die zur Hölle wurde, wie sie sagt. «Ich lebe noch, Gott behüte!» Zur Waffe greife sie erst, wenn es nicht mehr anders gehe. Bis dahin kämpft sie mit Worten.

Für Inna Sowsun waren die vergangenen Tage der blanke Horror. Nichts deutet darauf hin, dass sich das so schnell ändert. In ihrer Heimatstadt Charkiw, wo ihre Freunde ausharren, sei die Lage dramatisch. Die ostukrainische Metropole wird seit Tagen von schweren russischen Angriffen erschüttert. Zuletzt traf es den berühmten Freiheitsplatz.

«Viele sind gestorben, Schulen werden zerbombt, Spitäler angegriffen, Frauen bringen ihre Babys in Bunkern zur Welt, es fehlt an Medikamenten, an Essen, an allem», berichtet Sowsun. Präsident Selenski nannte den Beschuss der Stadt ein Kriegsverbrechen. Die Bilder, die Sowsun aus Charkiw erhält, sind erschütternd; sie können hier nicht gezeigt werden. «Es ist ein Massaker», sagt sie.

Machtlosigkeit

Die Sorge gilt auch ihrem neunjährigen Sohn, der vor kurzem mit seinen Grosseltern in die Westukraine flüchtete. «Er fragt immer: ‹Mama, wann sehen wir uns wieder?›» Immerhin befinde er sich in Sicherheit, sagt Sowsun. Anders als ihr Vater, der zurückkam, um Kiew zu verteidigen.

«Er ist alt, kann kaum noch gehen», sagt Sowsun. «So hat er doch keine Chance.» Der Kontakt zu ihm ist seit Freitag abgebrochen. Sie weiss nicht, ob er noch lebt. «Doch irgendwie muss es weitergehen», sagt sie. In diesem blutigen Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.

Am schlimmsten sei die Machtlosigkeit. «Wir fühlen uns vom Westen verraten und im Stich gelassen», sagt Sowsun. Dieser Krieg werde nicht an den Grenzen der Ukraine haltmachen. «Seien Sie sich dessen bewusst.»

Wie lange die Hauptstadt Kiew dem Angriff der Russen noch standhalten kann, weiss niemand. Gestern erreichte SonntagsBlick Sowsun zum letzten Mal, bevor sie wieder in den Luftschutzbunker hinabsteigt. Sie sagt: «Ich hoffe, wir hören uns nächste Woche.» Und legt auf.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?