Das Hochhaus am Limmatplatz steht noch. Doch die Migros, wie sie einmal war, existiert für viele Mitarbeitende des Hauptsitzes nicht mehr.
«Ich bin zur Migros gegangen, weil ich mich mit den sozialen Werten des Unternehmens stark identifiziert habe», sagt eine junge Frau im Gespräch mit Blick. Nun habe sie miterleben müssen, wie mehr als jedes dritte Gspänli in ihrer Abteilung aussortiert wurde, darunter Schwangere und junge Mütter. «Das tut extrem weh und hat mich tief erschüttert.»
Insgesamt haben bei der Migros Supermarkt AG diese Woche rund 150 Personen ihren Job verloren, 100 weitere erhielten eine Änderungskündigung. Das Ziel des Umbaus, an dem das berühmt-berüchtigte Beratungsunternehmen McKinsey beteiligt war: Der orange Riese soll preislich attraktiver werden, gegenüber den deutschen Discountern Boden gut machen – und wieder profitabler werden.
Definition über Preis statt Plastik
Im Bereich Marketing und Kommunikation fiel der Kahlschlag besonders brutal aus. Das kommt nicht von ungefähr. Denn das neue Management um Mario Irminger (59) will das Image der Migros neu ausrichten. In Zukunft soll nicht mehr die Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen, sondern der Preis.
Christopher Rohrer (49), seit Januar 2024 Leiter der Direktion Nachhaltigkeit der Migros-Gruppe, bestätigt entsprechende Recherchen von Blick: «Die Nachhaltigkeit wird im klassischen Marketing weniger Platz erhalten, stattdessen heben wir dort vermehrt unsere Preisvorteile hervor.»
Die Migros habe in den vergangenen Jahren in Klima- und Umweltfragen den Takt vorgegeben, sagt Rohrer. Mittlerweile sei die Konkurrenz jedoch in vielen Bereichen nachgezogen: «Netto-Null bis 2050 zum Beispiel hat Migros bereits vor Jahren als Ziel definiert, heute schreiben sich das fast alle auf die Fahne. Es ergibt deshalb wenig Sinn, in diesem Bereich weiterhin eine Vorreiterrolle zu übernehmen.»
Keine «unüberlegten Aktionen» mehr
Selbst der Titel «nachhaltigste Detailhändlerin der Welt», mit dem sich das Unternehmen jahrelang stolz schmückte, geniesst nicht mehr oberste Priorität: «Der Verzicht auf gewisse Massnahmen kann zur Folge haben, dass wir in Zukunft auf das Label als ‹nachhaltigste Detailhändlerin der Welt› verzichten müssen», sagt Rohrer. Damit müsse man leben. «Statt schöner Marketingkampagnen wollen wir lieber im Hintergrund tatsächlich auch etwas bewirken.»
«Unüberlegten Aktionen», die mehr Schaden als Nutzen verursachten, sagt er den Kampf an: «Wenn wir zum Beispiel für importiertes Fleisch die gleichen Tierstandards verlangen wie in der Schweiz, klingt das toll. Wenn die Konsumentinnen und Konsumenten ihr Importfleisch dann aber einfach bei der Konkurrenz kaufen, weil es dort billiger ist, nützt das dem Tierwohl rein gar nichts – die Migros verliert aber Marktanteile.»
Frontalangriff auf Vorgänger
Der neue Chef ist der Meinung, dass sich die Migros in der Vergangenheit bei den Nachhaltigkeitsbemühungen «verzettelt» hat. Das solle sich nun ändern: «Mit der neuen Organisation machen mein Team und ich nun alles aus einer Hand. Dabei fokussieren wir nicht nur auf Industrie und Supermärkte, sondern auch auf den Finanz- und Gesundheitsbereich.»
Trotz dieses Paradigmenwechsels behalte die Migros ihre Nachhaltigkeitsziele bei, sagt Rohrer. «Wir investieren aber nicht mehr sinnlos Millionen, um Applaus zu erhalten für populäre, aber wenig effiziente Massnahmen. Stattdessen setzen wir vermehrt auf Anpassungen im Hintergrund, die für die Klimabilanz auch tatsächlich entscheidend sind.»
Enttäuschte Mitarbeiter suchen das Weite
Die Aussagen des neuen Nachhaltigkeitschefs sind ein Frontalangriff auf seine Vorgängerinnen und Vorgänger. In der Zentrale in Zürich fühlen sich viele vor den Kopf gestossen. Einige, die mit dem Kurswechsel nicht einverstanden sind, haben deshalb schon vor Monaten die Fühler ausgestreckt nach einem neuen Job.
Die ungewohnten Töne am Limmatplatz sorgen aber auch bei Geschäftspartnern für Nervosität, zum Beispiel bei Bio Suisse. Die Migros hatte angekündigt, bis Ende 2025 die meisten Produkte der Eigenmarke «Migros Bio» auf das Knospen-Label von Bio Suisse umzustellen. Doch jetzt steht diese kostspielige Anpassung plötzlich wieder zur Diskussion.
Blick weiss: Die neue Führungscrew prüft derzeit, ob Migros die Knospe tatsächlich auf allen Bioprodukten braucht. Entschieden ist noch nichts. Aber gerade bei Importprodukten stellen Teile der Geschäftsleitung die Frage, ob es tatsächlich Sinn macht, für die Knospe Millionen an Lizenzgebühren zu bezahlen. Das Motto lautet auch hier: Preis vor Prestige.