Die Migros erzielte 2023 einen Gewinn von 175 Millionen Franken. Angesichts von 32 Milliarden Umsatz ist das bescheiden: Von 100 Franken, die in der Kasse landeten, blieben gerade mal 55 Rappen übrig. Auch für eine Genossenschaft, die keine Profitmaximierung betreibt, ist das zu wenig. Ohne ihre Migros Bank hätte die Gruppe rote Zahlen geschrieben.
Ursprung der Misere ist eine so komplizierte Konzernstruktur, dass Hochschulen für deren Vermittlung einen separaten Studiengang einrichten müssten. Der orange Riese ist schwerfälliger als mancher Staatsbetrieb. Zwar soll der organisatorische Wasserkopf nun um 1500 Stellen reduziert werden. Die Macht der zehn Regionalgenossenschaften aber bleibt. Im Vergleich zur ewigen Rivalin Coop, die seit 2001 zentral gesteuert wird, leistet sich die Migros viele Doppelspurigkeiten. Das selbst erklärte Ziel, den Konsumenten das beste Preis-Leistungs-Verhältnis zu bieten, lässt sich damit kaum erreichen.
Die Migros leistete sich in der Vergangenheit viele Fehlinvestitionen
Kommt hinzu, dass sich die Migros-Gruppe in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Fehlinvestitionen geleistet hat. Allein 2023 musste Mario Irminger (58), seit knapp einem Jahr Generaldirektor des Genossenschafts-Bundes, Abschreiber in Höhe von 500 Millionen Franken vornehmen.
Die Migros-Manager liessen sich in der Vergangenheit von den reichlich vorhandenen Eigenmitteln immer wieder dazu verleiten, in Geschäftsbereiche zu investieren, die wenig bis nichts mit dem Kerngeschäft zu tun hatten: Mit M-Way wurde man zum E-Bike-Spezialisten, mit Sharoo zum Carsharing-Anbieter, mit Sparrow Ventures zur Start-up-Beteiligungsfirma, mit Cash + Carry Angehrn zum Grosshändler – alle wurden wegen ausbleibenden nachhaltigen Erfolgs verkauft.
Mit den Akquisitionen von Globus, Interio, Office World, Depot und Schild blieb man dem Detailhandel treu, doch die wurden ebenfalls abgestossen, teils unter dreistelligen Millionenverlusten. Auch Melectronics und SportX, vor Jahren von Migros selbst gegründet, hat Irminger Anfang Februar zum Verkauf ausgeschrieben. Das gilt auch für die traditionsreiche Reisetochter Hotelplan sowie Mibelle, einen Produzenten für Kosmetik- und Hygiene-Erzeugnisse.
Irminger opfert damit einen Grossteil des Erbes von Unternehmensgründer Gottlieb Duttweiler (1888–1962). Ein radikaler Schritt, den er diese Woche so rechtfertigte: «Fokus, Fokus, Fokus!»
Für Bike World, Do it + Garden, Micasa und Obi, die ebenfalls zur Disposition stehen, verheisst das nichts Gutes.
Migros Bank und Gesundheitswesen unantastbar
Irminger gibt sich fest entschlossen, die Migros auf Effizienz und attraktive Preise zu trimmen. Als langjähriger Chef der Migros-Tochter Denner, die Jahr für Jahr hübsche Gewinne an den Mutterkonzern abliefert, ist er für diese Aufgabe prädestiniert – scheint aber nicht bereit, auf sämtliche Kompromisse zu verzichten.
An der Migros Bank zum Beispiel hält Irminger genauso fest wie an der Expansion im Gesundheitswesen, dem jüngsten Abenteuer der Gruppe. Mit Medbase, Activ Fitness, Fitnesspark, der Apothekenkette Zur Rose, dem Zahnmedizin-Start-up Bestsmile sowie weiteren Beteiligungen ist Migros längst zu einem der grössten Player im Gesundheitsmarkt aufgestiegen.
Gesundheitsmarkt ist kein Selbstläufer
Im Gespräch mit Blick zeigt sich Irminger überzeugt von dieser Strategie, die schon sein Vorgänger Fabrice Zumbrunnen (54) vorangetrieben hat: «Der Gesundheitsbereich passt zu uns, weil es auch dort – wie im Lebensmitteldetailhandel – um die Grundversorgung der Schweiz geht.» Dort sehe man zudem grosses Wachstumspotenzial.
Das kann gut gehen, ein Selbstläufer ist der Gesundheitsmarkt aber nicht. Die Migros musste dies bereits am eigenen Leib erfahren: In Zusammenhang mit der Akquisition von Bestsmile war eine Wertberichtigung von 60 Millionen Franken fällig – und auch die Fitness-Expansion in Deutschland wurde zum Fiasko. Die Marken Elements und Injoy mussten mit Millionenverlusten verkauft werden.
Expansion nach Deutschland schwierig
Verantwortlich dafür waren die Genossenschaft Migros Zürich (GMZ) und ihr umtriebiger Chef Jörg Blunschi (65). Der hatte 2013 auch den deutschen Lebensmittelhändler Tegut akquiriert. Lange schien dieses Engagement unproblematisch. 2022 jedoch resultierte bei Tegut ein Verlust von 16 Millionen Euro.
Ungeachtet dieser Negativerfahrungen geht man in der Zentrale am Limmatplatz derzeit ein noch viel grösseres Wagnis ein: Digitec Galaxus, 2015 unter Generaldirektor Herbert Bolliger (71) aufgekauft, versucht seit 2018 den deutschen Onlinehandel zu erobern.
Die Wachstumsraten sind beeindruckend, aber teuer erkauft. Das Experiment brachte bisher zwischen 150 und 200 Millionen Euro Verlust.
Zukunft in Deutschland ungewiss
Irminger scheint das nicht geheuer. Die Weiterführung von Galaxus Deutschland stellt er zwar nicht infrage, an der Bilanzmedienkonferenz liess er jedoch mit der Aussage aufhorchen: «Wir diskutieren im Moment sehr stark, in welchem Ausmass wir uns in Deutschland weiter engagieren.»
Unbändige Abenteuerlust klingt anders. Doch es bleibt unklar, ob der neue Geist der Bescheidenheit auch die Regionalgenossenschaften erfasst hat. Zumindest in Zürich, wo schon in der Vergangenheit mehrere teure Experimente beschlossen worden sind, scheint man sich irgendwelcher Fehler nicht bewusst: «Die GMZ hat sich nie an Unternehmen beteiligt, welche ausserhalb der Kernbereiche Food und Gesundheit tätig sind und stützt damit die Migros-Gruppenstrategie», teilt die Medienstelle mit.
Das macht nicht den Anschein einer umfassenden Selbstreflexion. Viel entgegensetzen kann der Generaldirektor dieser Haltung jedoch nicht. Die Regionalgenossenschaften geniessen nach wie vor die Freiheit, selbständig in Geschäftsbereiche zu investieren. «Unsere Umstrukturierung hat daran nichts geändert», sagt Irminger.
Konzentration auf die Kernbereiche
Gleichwohl gibt sich der neue Chef überzeugt, dass in der Gruppe alle dazugelernt hätten und das Bewusstsein gross sei, sich auf die definierten Kernbereiche fokussieren zu müssen. «Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass es sehr teuer werden kann, wenn wir uns verzetteln – und zwar für die ganze Gruppe.»
Was «fokussieren» genau bedeutet, definiert die Migros im Unterschied zur Konkurrenz aber noch immer sehr grosszügig. Insbesondere die Manager von Aldi Suisse und Lidl Schweiz können sich Tag für Tag nur auf eines konzentrieren: tiefe Preise für die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz. Völlig frei von Banken und Kranken.