Wer Fleisch isst, tötet Tiere – und belastet die Umwelt. Laut einer neuen Studie des Beratungsunternehmens Pricewaterhouse Coopers dienen weltweit 80 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche direkt oder indirekt der Fleischproduktion – decken jedoch, so die Autoren, damit nur elf Prozent des Kalorienverbrauchs ab. Ihr Fazit: Der hohe Fleischkonsum gefährdet die globale Lebensmittelversorgung.
Die Lösung des Problems liegt auf dem Teller: weniger oder gar kein Fleisch essen. Die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung allerdings ist zu diesem Schritt offenbar nicht bereit. Produkte, die als Fleischersatz angepriesen werden, haben zwar mittlerweile in vielen Supermärkten einen festen Platz. Die meisten Kunden geben jedoch echtem Fleisch den Vorzug.
Dennoch tüfteln weltweit Hunderte Firmen an neuen Alternativen zu Burgern, Cervelats oder Steaks. Ihr grosses Ziel ist Laborfleisch, das geschmacklich nicht von herkömmlichem Fleisch zu unterscheiden ist. Ausgangspunkt sind dabei Zellen, die einem Tier entnommen werden. Anschliessend wachsen diese Muskel- und Fettzellen aber nicht in einem Huhn, Rind oder Schwein heran, sondern in einem Bioreaktor. So entsteht echtes Fleisch, einfach ohne Tier – und damit auch ohne Schlachten und bei deutlich geringerem Verschleiss von Ressourcen.
Poulet aus dem Labor
Die Migros ist an mehreren Firmen beteiligt, die solches In-vitro-Fleisch marktfähig machen wollen. Wie es aussieht, ist die Zusammenarbeit mit dem israelischen Foodtech-Unternehmen Supermeat, das sich auf die Kultivierung von Pouletfleisch konzentriert, besonders weit fortgeschritten.
Vor einigen Wochen verkündete Supermeat stolz, man habe mit der Migros eine Absichtserklärung unterschrieben, um die Produktion und den Vertrieb von Zuchtfleisch «im kommerziellen Massstab» voranzutreiben. Die Rede ist vom Aufbau einer Infrastruktur für den Vertrieb und Verkauf von Fleisch «in grossem Massstab».
Supermeat-CEO Ido Savir äussert sich in dem Communiqué euphorisch über die Kooperation mit der Migros: «Ihr Fachwissen und ihre Reichweite in der Lebensmittelproduktion und im Lebensmittelgeschäft, gepaart mit den Fortschritten von Supermeat in der Branche, werden die Voraussetzungen schaffen, um in naher Zukunft kultiviertes Fleisch zu den europäischen Verbrauchern zu bringen.» Gegenüber «Food Navigator», einem Online-Nachrichtenportal für die Lebensmittelindustrie, wird Savir konkret: «Wir gehen davon aus, in der Schweiz bis 2025 kultiviertes Fleisch verkaufen zu können.»
Poulet aus dem Reagenzglas an der Fleischtheke? Und das in zwei, drei Jahren?
Die Migros will diesen Zeitplan gegenüber SonntagsBlick nicht kommentieren. Auch Fragen nach möglichen Produktionsstandorten und geplanten Mengen bleiben unbeantwortet. Stattdessen verweist die Medienstelle auf einen Bericht, der Mitte Juli im «Migros-Magazin» erschienen ist. Dort stehe alles, was man derzeit zum Thema sagen könne, so die knappe Antwort der Medienstelle.
In Tel Aviv bereits auf der Speisekarte
Der Artikel schwärmt vor allem davon, wie köstlich das Poulet aus dem Labor schmecke. «Es ist nicht wie Fleisch, es ist Fleisch», so das Fazit der Migros-Delegation, die im Supermeat-Testrestaurant in Tel Aviv eine kleine Wurst, eine Frühlingsrolle und einen Burger degustiert hat. Von den konkreten Plänen der Migros erfährt das Publikum hingegen wenig.
Recherchen von SonntagsBlick zeigen jedoch, dass der orange Riese gross denkt, wenn es um die Fleisch-Revolution geht. Bereits im Sommer 2021 trafen sich Migros-Exponenten mit Vertretern des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), um über die Voraussetzungen für eine sogenannte Novel-Food-Zulassung zu sprechen.
Im Anschluss bat Migros die Behörden per E-Mail um die Klärung mehrerer offener Fragen. Die Korrespondenz, in die SonntagsBlick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz Einsicht nehmen konnte, lässt die Laborfleisch-Pläne des Grossverteilers erahnen. So wollte die Migros vom BLV zum Beispiel wissen, was für eine «Kommerzialisierung» von Novel Food «in allen EU-Ländern» nötig sei und ob in der Schweiz produziertes Kulturfleisch in die USA exportiert werden könne. Weiter erkundigten sich die Verantwortlichen nach der Möglichkeit von «Verbrauchertests» in der Schweiz.
Einen Monat später trafen die Antworten aus Bern am Zürcher Limmatplatz ein. Im Hinblick auf den Zugang zum europäischen Markt wies das BLV darauf hin, dass eine Zulassung in der Schweiz das Verfahren in der EU grundsätzlich nicht beschleunigt. Exporte nach Übersee jedoch seien auch ohne Zulassung möglich, sofern die lebensmittelrechtlichen Bestimmungen der USA eingehalten würden.
Das BLV ist bereit
Punkto Verbrauchertests legte sich das BLV nicht abschliessend fest: Grundsätzlich sei eine amtliche Zulassung immer dann erforderlich, wenn neuartige Lebensmittel in Verkehr gebracht werden – und sei es lediglich für Markttests. Ausgenommen sei einzig die Einfuhr von Lebensmitteln für private Verwendung zu Hause. «Es liegt in Ihrer Verantwortung im Rahmen der Selbstkontrolle zu beurteilen, ob die Verkostung, unter diese Bestimmung fällt und nicht eine Abgabe an Dritte ist.»
Welche Schlüsse die Migros aus diesen Antworten gezogen hat, ist unklar. «Bitte haben Sie Verständnis, dass wir die vorliegende Korrespondenz nicht kommentieren», schreibt die Medienstelle.
Das BLV wiederum teilt mit, dass bis heute kein offizielles Gesuch zu kultiviertem Fleisch eingegangen sei. Die Schweizerische Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung sehe jedoch eine Kategorie von neuartigen Lebensmitteln aus Zellkulturen vor. Genauer: «Eine entsprechende Bewilligung hängt von der Vollständigkeit und Qualität des Bewilligungsdossiers ab.» Insbesondere müsse die Sicherheit des neuartigen Lebensmittels nachgewiesen werden.
Ob es realistisch ist, dass in der Schweiz ab 2025 kultiviertes Fleisch verkauft wird, möchte das BLV nicht beurteilen, weist jedoch darauf hin, dass für ein Bewilligungsdossier mit einer Bearbeitungsdauer von einem bis drei Jahren gerechnet werden müsse.