«Brot für die Welt, die Wurst bleibt hier!», scherzen Deutsche gern. Nur: Die deutsche Wurst blieb nicht daheim, sie ist längst in aller Welt. Dieser Tage wird gerade fieberhaft nach ihr gesucht. Aus Sorge, dass mit ihr ein Virus auf den Tisch kommt.
Deutschland hat wieder einen Fleischskandal. Diesmal sind nicht nur die Schweine arm dran, sondern auch die Menschen in der Fleischindustrie sind offenbar arme Schweine.
Mehrere Schlachtbetriebe sind zu Corona-Hotspots geworden: Bei Tönnies, Europas grösstem Schlachthof, infizierten sich mehr als 1500 Mitarbeiter. Grund sind die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Branche: 13-Stunden-Schichten und rasende Fliessbänder sind die Norm. Wer sich krank fühlt, wird angebrüllt; bis zu 14 Menschen werden in einer Wohnung zusammengepfercht. «Es ist eine neue Form der Sklavenarbeit», sagt Martin Häusling, Agrarexperte und EU-Parlamentarier der Grünen. «Billige Arbeitskräfte, die in Baracken hausen, schlachten billiges Fleisch für ein grosses Publikum.»
«Vertrauen auf null»
Es gäbe schlimmere Geschichten über Ausländer in Deutschland zu erzählen. Aber diese hier ist schlimm genug, sodass sich ein westfälischer Pfarrer gezwungen sieht, von «Wegwerfmenschen» zu sprechen. Peter Kossen weiss: Wer ausfällt, wird sofort durch den nächsten Rumänen oder Bulgaren ersetzt. Thomas Kuhlbusch, Leiter des Corona-Krisenstabs im stark betroffenen Nordrhein-Westfalen, sagt nur noch: «Das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzten, ist auf null.»
Mittlerweile melden weitere Massenschlachter wie Westfleisch oder Wiesenhof Covid-19-Ausbrüche. Deren Billigware wird überall aufgetischt, Tönnies und Co. beliefern in Deutschland die Super-Discounter Aldi, Lidl oder Rewe – die ihre Fleischtheken ungerührt mit «Qualität aus Deutschland» bewerben.
Freitagmittag in Konstanz: Schweizer Einkaufstouristen fahren im Industrieviertel bei Discountern vor. Fürs Wochenende ist Grillwetter angesagt. Bei Aldi gibt es die XXL-800-Gramm-Packung Schweineschnitzel für 4,99 Euro. 800 Gramm Minutensteaks von Lidl gehen für schlappe 5,38 Euro über die Theke. Gegen solche Preise kommen Schweizer Metzger einfach nicht an.
«Wir haben nur Wurstwaren gekauft, kein Frischfleisch», sagen Mladen und Zeljka Humljan und schliessen den Kofferraum ihres Wagens. Seit der Corona-Pandemie hat das Paar aus Romanshorn TG nicht mehr drüben eingekauft. Der Fall Tönnies, so viel wird schnell klar, besorgt die beiden nicht sonderlich: «So was kann überall passieren.»
Coronavirus überlebt auch in der Kälte
Noch sind keine Fälle bekannt, in denen Fleisch für Infektionen gesorgt hat. Aber Coronaviren sind zäh, sie können auch bei minus 20 Grad Celsius infektiös bleiben – zwei Jahre lang.
Im Konstanzer Einkaufszentrum Lago, einem Tempel des Schweizer Einkaufstourismus: Patrick und Monika, Sohn und Mutter, Steak und Pouletgeschnetzeltes im Einkaufswagen, reisen einmal im Monat aus Herisau und Zürich an, um hier einzukaufen. Der Schlachthof-Skandal habe keinen Einfluss auf sein Einkaufsverhalten, sagt der Sohn. «Ich kann mir in der Schweiz die Frischfleisch-Theke nicht leisten», sagt die Mutter. Daheim kauft sie abgepacktes Fleisch. Einmal im Jahr gönnt sie sich den Hofladen: «Dann, wenn der 13. Monatslohn kommt.»
Eine Mutter aus dem Aargau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, analysiert mit einem Blick über den Parkplatz treffend: «Wir alle sind wegen der Preise hier!»
Das entspricht dem Credo der Fleischindustrie: Fleisch muss so billig sein, dass auch Hungerleider es sich leisten können. Und noch Ärmere schlachten dafür im Höllentempo Tier um Tier.
Deutschland ist Schweinefleisch-Weltmacht. Im Vergleich zum Jahr 2000 wird dort fast zu 50 Prozent mehr geschlachtet. Parallel gingen die Schlachtungen in Frankreich, Belgien und Holland zurück. Die Nachbarn konnten mit den deutschen Dumpinglöhnen nicht mithalten. So wurde Deutschland zum Export-Weltmeister. Ein fragwürdiger Titel.
«Geiz ist geil»-Mentalität
Der Fall Tönnies dürfte der «Geiz ist geil»-Mentalität entsprungen sein, meint Ruedi Hadorn, Direktor des Schweizer Fleisch-Fachverbandes (SFF): Er hat dabei nicht nur die deutschen Kunden im Auge. Oft sagten Schweizer Kunden etwas anderes, als ihr Einkaufsverhalten zeige – und zwar nicht nur jene, die aufs Geld achten müssen.
Nur etwa 80 Prozent des hierzulande konsumierten Fleischs stammt aus der Schweiz, der Rest wird importiert. In Zahlen waren es 2019 rund 90 000 Tonnen pro Jahr aus aller Welt.
Die Genossenschaft für Vieh- und Fleischimport (GVFI) aus Basel importiert davon rund die Hälfte. Woher die Ware kommt, die auch bei Bell (Coop) und Micarna (Migros) landet, darüber schweigt sich die GVFI aus. Der Agrarbericht des Bundes sagt: Beim importierten Schweinefleisch stammen über 40 Prozent aus Deutschland, beim Rind sind es über 25 Prozent.
Die Branche sei sehr verschwiegen, bekennt ein Insider. «Der Skandal bei Tönnies, der Pferdefleischskandal, die Haltung und wie geschlachtet wird – all dies steht zu Recht am Pranger.» Es sei kaum zu überprüfen, ob deutsche Schlachthöfe die Gesetze einhielten. Sonst könnte das Fleisch einfach nicht so billig sein.
Einkaufstourismus seit 2008 verdreifacht
Undurchsichtig wie eine missratene Fleischbrühe ist auch die Lage beim Einkaufstourismus. Laut Ruedi Hadorn von Schweizer Fleisch hat er sich seit 2008 verdreifacht. Doch nicht einmal die Eidgenössische Zollverwaltung weiss, welche Mengen da ins Land gelangen. Ein Kilo pro Person und Tag ist zollfrei. Die meisten Reisenden bleiben unter dieser Limite, «und werden somit von unseren Leuten an der Grenze nicht erfasst», so der Zoll.
Der Fleischverband SFF liess vor einigen Jahren schätzen, welchen Anteil der Einkaufstourismus am Schweizer Fleischmarkt hat: Von total 10 Milliarden Franken pro Jahr wanderten 1 bis 1,6 Milliarden über die Grenze. Fleisch sei bei den Einkaufstouristen im Lebensmittelsektor das meistgefragte Produkt, so Hadorn.
Das aber war noch, bevor die Grenzen wegen Corona geschlossen wurden. Auf die neuen Zahlen nach der Grenzöffnung darf man gespannt sein.