Wann ist ein Mensch krank und invalid, also erwerbsunfähig?
Fehlt jemandem ein Arm, gibt es da keine zwei Meinungen. Ganz anders bei chronischen Schmerzen, Angst, Schlafstörungen, Schwindel, Schwäche, Erschöpfung, Antriebslosigkeit oder Burnout: Bei diesen Leiden kann es im Einzelfall extrem schwierig zu entscheiden sein, wer erwerbsunfähig ist, also Anspruch auf eine IV-Rente hat – und wer lediglich simuliert.
Der deutsche Neurologe Dr. Henning Mast (70) hat den Ruf, im Zweifel gegen die Patientinnen und Patienten zu entscheiden. Er und seine medizinischen Gutachter der PMEDA AG erklärten in der Vergangenheit auffällig viele von ihnen für gesund. Sie ersparten der IV und anderen Versicherungen damit Zahlungen in Millionenhöhe.
Bei Betroffenen, Behindertenorganisationen und Schadenanwälten avancierte Mast dadurch zum Feindbild. Dementsprechend gross war ihre Freude, als das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) vor zwei Wochen bekannt gab, dass die kantonalen IV-Stellen in Zukunft nicht mehr mit PMEDA zusammenarbeiten werden.
Gutachten als einträgliches Geschäft
Mast kritisiert diesen Entscheid scharf. Er betont, dass das Bundesgericht die Arbeit von PMEDA in mehr als 100 Urteilen «weit überwiegend positiv» eingeschätzt habe und sieht sich als Opfer einer «Kampagne von Geschädigtenanwälten». Für das schweizerische Sozialversicherungssystem könne dies, so Mast, fatale Folgen haben: «Wir alle haben ein Interesse daran, dass Versicherungsleistungen auf objektiven Kriterien basieren. Durch einen Missbrauch des Versicherungssystems steigen die Prämien massiv.»
Was Mast nicht erwähnt: Für seine Firma waren medizinische Gutachten ein einträgliches Geschäft. Allein von der IV kassierte PMEDA in zehn Jahren rund 26 Millionen Franken. Als Inhaber dürfte Mast dabei nicht zu kurz gekommen sein.
Doch er hätte dieses Geld wahrscheinlich gar nicht nötig. Der umstrittene Mediziner stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater Günter Mast (1926-2011) gehörte als Chef von Jägermeister, dem Kräuterlikör-Produzenten aus Niedersachsen, zur bundesdeutschen Prominenz. Mast senior stand 45 Jahre lang an der Spitze der Mast-Jägermeister SE und machte die einstige Regionalmarke mit kreativen Einfällen weltberühmt. Etwa mit der Werbekampagne: «Ich trinke Jägermeister, weil ...»
Sein grösster Marketing-Coup gelang ihm 1973: der Jägermeister-Hirsch auf dem Trikot des Fussball-Bundesligisten Eintracht Braunschweig. Was heute Standard ist, war ein Novum – und nicht von allen gern gesehen. Mast geriet in einen Streit mit dem Deutschen Fussball-Bund. Schiedsrichter erhielten damals sogar den Auftrag, nicht anzupfeifen, wenn ein Jägermeister-Trikot zu sehen war. Mast beeindruckte das wenig. «Das war das, was ich wollte, denn das wurde ja diskutiert», sagte er einst.
Lust an der Provokation
Günter Mast war nie an Jägermeister beteiligt, das Unternehmen gehört bis heute einem anderen Zweig der Familie. Laut Recherchen der deutschen Plattform «Correctiv» hinterliess er seinen drei Söhnen dennoch ein Millionenvermögen. Laut juristischen Dokumenten, die SonntagsBlick einsehen konnte, erbten sie insgesamt mindestens 18 Millionen Euro, wovon Henning Mast 36 Prozent erhielt, darunter ein 600 Hektar grosses Forstgut in Oberbayern.
Was ist sein Antrieb, um mit medizinischen Gutachten, die Existenzen vernichten können, weitere Millionen zu machen?
Mast junior findet diese Frage «paradox». «Warum sollte ein vermeintlich wohlhabender Mensch nicht arbeiten wollen?», fragt er zurück.
Von seinem Vater hat er nicht nur viel Geld geerbt, sondern auch die Lust an der Provokation. «Schweizer Woke-Medizin», lautete der Titel eines Artikels, den er im Juni in der «Weltwoche» publizierte. Darin behauptete der Mediziner, dass «zeitgeistige Krankheitsdefinitionen» das Versicherungssystem belasteten. Neustes Beispiel sei «Long Covid».
Kliniken gehen auf Distanz
Es sind Aussagen wie diese, mit denen sich Mast immer weiter ins Abseits manövriert. Referierte er 2022 noch an einer Veranstaltung der Berliner Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie über «Die Definition von Gesundheit», betont deren Vorsitzender heute: «Zu keinem Zeitpunkt bestand oder besteht eine vertragliche Zusammenarbeit, noch ist zukünftig ein weiterer Vortrag oder eine Zusammenarbeit bei uns in der Gesellschaft geplant.»
Die Hirslanden Klinik Im Park und die Schwindelklinik in Zürich, bei denen Mast bis vor kurzem auf der Website zu finden war, gehen ebenfalls auf Distanz. «Die Zusammenarbeit wurde Ende 2022 beendet», sagt eine Hirslanden-Sprecherin, ohne Gründe zu nennen. Die Inhaberin der Schwindelklinik erklärt: «Wir hatten vor einigen Jahren Herrn Prof. Mast in seiner Funktion als Neurologe für konsiliarische Fragen in unser Netzwerk aufgenommen, aber seine Leistungen nie beansprucht.»
Im Internet ist zudem eine Praxis in Berlin zu finden, im britischen Unternehmensregister die «London Medico-Legal Limited», die Mast gehören. Wo ist er sonst noch tätig?
Seine Antwort: «Bedingt durch meine internationale berufliche Laufbahn der letzten 50 Jahre und meine Beiträge zur neurologischen Wissenschaft, Behandlung und Versicherungsmedizin haben sich vielfältige universitäre und andere berufliche Verbindungen unter anderem in den USA, Deutschland, UK, Nigeria, Israel und der Schweiz sowie mit internationalen Fachzeitschriften ergeben.»
Weniger IV-Rentner trotz grösserer Gesamtbevölkerung
Er sei daher als Vortragsredner gefragt. «All dies kann sich auch in nicht selten unvollständigen oder nicht mehr aktuellen Angaben im Internet widerspiegeln und bedarf (leider) auch mehr als einer Wohnung.»
In Zürich hat Mast ebenfalls eine private Bleibe, keine zehn Gehminuten vom PMEDA-Sitz entfernt. Mast will diese Standorte auch in Zukunft nutzen: «Die sozialen Sicherungssysteme sehen wir als wertvolle Einrichtungen, die des Schutzes durch eine sorgfältige Prüfung oft komplexer medizinischer Sachverhalte bedürfen. Hierzu möchte PMEDA weiterhin beitragen.» Versicherungen wie die IV basierten darauf, dass nur gerechtfertigte Leistungen ausbezahlt werden. «Wird dieses Prinzip ausgehöhlt, ist dies ein direkter Angriff auf die Prämienzahlenden.»
Das ist unbestritten. Tatsache ist aber auch, dass die Anzahl der gesprochenen IV-Renten in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist.
2006 zählte die Schweiz 250'000 IV-Rentner. 2022 waren es nur noch 220'000 – trotz deutlich grösserer Gesamtbevölkerung.