Medizinische Gutachten können über Schicksale entscheiden: Wer hat Anspruch auf eine Invalidenrente? Und wer gilt als arbeitsfähig, erhält also keine Unterstützung?
Die PMEDA AG des Arztes Henning Mast (70) erklärte in der Vergangenheit auffällig viele Menschen für gesund – und ersparte Versicherungen damit Zahlungen in Millionenhöhe.
Das meint SonntagsBlick
Damit ist nun Schluss, zumindest bei der Invalidenversicherung: Das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) teilte diese Woche mit, dass die kantonalen IV-Stellen in Zukunft PMEDA nicht mehr mit medizinischen Gutachten beauftragen dürfen – und kommt damit einer Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für die Qualität bei der medizinischen Begutachtung nach.
Deren Evaluation hat gezeigt, dass «die überwiegende Mehrheit» der untersuchten PMEDA-Gutachten «gravierende formale und inhaltliche Mängel» aufweist.
Bund reagiert erst nach Jahren
Doch die Intervention des Bundes kommt spät. Schon seit Jahren gibt es Hinweise, dass Mast und seine Ärzte unseriös arbeiten. «Kassensturz» hatte bereits 2018 berichtet, dass PMEDA «in rekordverdächtig schnellen 36 Minuten» die Existenz eines Mannes zerstört habe. Eine Tonaufnahme der Patientenbefragung belegte, dass das psychiatrische Gutachten – auf dessen Grundlage eine Rente verweigert wurde – fehlerhaft war.
Mehr zur IV
Auch SonntagsBlick berichtete über die Zürcher Gutachterfirma. Etwa über sogenannte Flugärzte, die Inhaber Mast aus Deutschland einfliegen liess, um Schweizer IV-Antragsteller zu begutachten – und deren Expertisen meist im Sinne der Versicherungen ausfielen.
Das BSV jedoch – und Gesundheitsminister Alain Berset (51) ebenso – hielt bis zuletzt an PMEDA fest. Masts Unternehmen erhielt gar so viele Aufträge wie kaum ein anderer Anbieter. Recherchen von SonntagsBlick zeigen: Von 2013 bis 2022 durfte PMEDA für die IV rund 2500 medizinische Gutachten ausstellen und kassierte dafür 26,7 Millionen Franken.
Nicht nur IV betroffen
Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn PMEDA arbeitete nicht nur für die IV, sondern auch für zahlreiche Krankentaggeld- und Unfallversicherer. Wie gross das Auftragsvolumen in diesen Bereichen war, ist unbekannt. Brancheninsider gehen aber davon aus, dass es mindestens so hoch war wie bei der IV.
Der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) teilt auf Anfrage mit, man habe dazu keine Zahlen. PMEDA wiederum ignorierte trotz mehrfacher Kontaktversuche sämtliche Fragen von SonntagsBlick.
Die Rückmeldungen einzelner Versicherer lassen vermuten, dass viele Auftraggeber dem Beispiel der IV folgen werden. Groupe Mutuel zum Beispiel, die in der Vergangenheit regelmässig auf die umstrittene Firma setzte, teilt auf Anfrage mit: «Aufgrund des Entscheides des BSV ist an einer Zusammenarbeit mit PMEDA nicht mehr festzuhalten.»
Keine Gerechtigkeit für Geschädigte
Neurologe Mast und sein Unternehmen dürften durch den Entscheid der IV in der gesamten Versicherungsbranche als geächtet gelten. Zahllosen Antragstellern, denen aufgrund eines PMEDA-Gutachtens eine Rente verweigert wurde, nützt das aber nichts. Bereits entschiedene IV-Antragsverfahren sollen nicht neu aufgerollt werden. «Rechtskräftige Leistungsentscheide bleiben bestehen», so das BSV in einer Mitteilung.
Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, hat dafür kein Verständnis. «Betroffene Personen, die nicht den Mut, die Energie und die finanziellen Mittel gehabt haben, sich gegen einen auf einem PMEDA-Gutachten basierenden IV-Entscheid zu wehren, haben somit das Nachsehen», kritisiert Petra Kern, Leiterin der Abteilung Sozialversicherungen.
Das BSV hält dem entgegen, dass die Gutachten der PMEDA auf ihre Verwertbarkeit und Beweiskraft geprüft worden seien – in Beschwerdefällen auch durch die kantonalen Gerichte und das Bundesgericht. «Wir gehen darum davon aus, dass die rechtskräftigen Entscheide auf der Basis beweiskräftiger Gutachten gefällt wurden», so ein Sprecher.
Das Problem dieser Argumentation: Weil Richter keine Ärzte sind, bewerteten sie die Qualität der Gutachten nicht aus medizinischer Sicht. Geprüft wurde lediglich die Rechtsförmigkeit der Verfahren, nicht ihr Inhalt.
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