Ihre Gutachten sind gefürchtet
IV fliegt deutsche Ärzte ein

Die Schweiz lässt Dutzende Ärzte, die ihre Praxis in Deutschland haben, als IV-Gutachter einfliegen. Sie sollen entscheiden, wer eine IV-Rente bekommt.
Publiziert: 16.11.2019 um 23:27 Uhr
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Aktualisiert: 17.11.2019 um 07:01 Uhr
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Der Berner Arzt L. hat mit IV-Gutachten seit 2012 rund 3,1 Millionen Franken verdient. Der Mann ist bekannt dafür, kaum jemanden für arbeitsunfähig zu erklären.
Foto: Zvg
Thomas Schlittler

Das psychiatrische Gutachten erklärt eine Frau für gesund und arbeitsfähig – die IV-Rente wird ihr verweigert. Doch ihr Rechtsanwalt Pierre Heusser (50) aus Zürich hält die Expertise für unbrauchbar.

In seiner Beschwerde präzisiert er, dass der zuständige Dr. H.* aus Deutschland stammt und eine psychiatrische Praxis in Hamburg führt. «Es ist also davon auszugehen, dass Dr. H. lediglich als sogenannter 90-Tage-Dienstleister in der Schweiz tätig ist und sonst keinen Bezug zur Schweiz hat.» Für Heusser ist das inakzeptabel. Die Frau habe das Recht, von einem Arzt begutachtet zu werden, der «mit den schweizerischen Gepflogenheiten vertraut» ist.

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Dr. H. arbeitet für die SMAB AG, eine von rund 30 Firmen, die in der Schweiz «polydisziplinäre IV-Gutachten» erstellen dürfen. Also solche, die mehrere medizinische Fachbereiche umfassen.

Mehrere Dutzend Flugärzte

Nun zeigen Recherchen von SonntagsBlick: Dr. H. ist kein Einzelfall. Die SMAB AG arbeitet mit mehr als zehn Ärzten zusammen, die in Deutschland praktizieren und in der Schweiz nur als Versicherungsgutachter arbeiten. Auch andere Gutachterstellen wie die PMEDA AG von Dr. Henning Mast lassen Ärzte aus Deutschland einfliegen, um Schweizer IV-Antragsteller zu begutachten. Mehrere Dutzend sogenannte Flugärzte sind hierzulande in dieser Funktion tätig.

Die Analyse eines Berichts des Bundes zeigt: 10 der 16 fallführenden IV-Gutachter der PMEDA AG haben ihre Praxis in Deutschland.
Foto: Blick Grafik

Versicherungsanwälten, Behindertenorganisationen sowie behandelnden Schweizer Ärzten sind sie ein Dorn im Auge. Die Zürcher Psychiaterin Maria Cerletti (55) kritisiert, die räumliche Distanz verführe zu übermässiger Härte. «Die Kollegen aus Deutschland kennen uns behandelnde Schweizer Ärzte nicht. Sie müssen uns nicht in die Augen schauen und sie müssen sich auch nicht um ihren Ruf als Behandler in der Schweiz kümmern.»

Die Behindertenorganisation Procap moniert, dass sich deren Qualität kaum überprüfen lasse, wenn diese Ärzte ihre Praxis im Ausland hätten. «Es bekommt hier zum Beispiel niemand mit, wenn ein Arzt in deutschen Medien kritisiert wird. Auch disziplinarische Massnahmen bleiben unter dem Radar», so Alex Fischer, Bereichsleiter Sozialpolitik bei Procap.

Nicht alle sind mit Schweizer Verhältnissen vertraut

Rechtsanwalt Heusser plädiert generell dafür, dass mit der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit Mediziner beauftragt werden sollten, die mit den Schweizer Verhältnissen vertraut seien – mit dem Arbeitsmarkt, dem gesellschaftlichen Umfeld, mit dem Gesundheitswesen. Er fragt rhetorisch: «Oder würde es einem Gericht in den Sinn kommen, für die Schätzung eines Chalets in Grindelwald einen deutschen Immobilienmakler aus Berlin einzufliegen?» Heusser stellt fest: «Wir Versicherungsanwälte haben den Eindruck, dass genau jene Gutachterstellen mit vielen ausländischen Gutachtern in ihren Reihen am häufigsten von der Beurteilung der behandelnden Schweizer Ärzte abweichen.»

Thomas Ihde (51), Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler FMI, will nicht alle Flugärzte in den gleichen Topf werfen. «Einige machen das seit Jahren, sind mit den Gegebenheiten in der Schweiz vertraut und arbeiten se­riös», sagt er. Es gebe aber auch jene, die nur wegen des Geldes hier seien und die Schweiz kaum kennen: «Unter diesen Umständen ist ein seriöses Gutachten unmöglich.»

Bund sieht kein Problem

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) weiss vom Einsatz der fremdländischen Experten. Der geballten Kritik zum Trotz verteidigt die Behörde die Praxis. Sprecher Harald Sohns: «Wir sehen darin kein Problem.» Relevant sei einzig die fachliche Qualifikation der Gutachter und nicht, wo diese ihren Sitz hätten.

Im Übrigen weist das BSV darauf hin, dass die Schweiz auf Gutachter aus dem Ausland angewiesen sei, weil es in bestimmten medizinischen Fachrichtungen einen Mangel an solchen Kräften gebe.

Auf die Frage, wie es komme, dass einzelne Gutachterstellen wie PMEDA und SMAB deutlich mehr Flugärzte in ihren Reihen hätten als andere, geht das BSV nur indirekt ein. Sprecher Sohns: «Die Gutachterstellen sind frei im Entscheid, mit welchen Gutachterinnen und Gutachtern sie zusammenarbeiten.» Es sei kein Mangel, wenn eine Gutachterstelle mehr deutsche Ärzte beschäftige als andere.

Unabhängigkeit als Vorteil?

Die SMAB AG selbst betrachtet die zahlreichen deutschen Gutachter sogar als Glücksfall. Die beigezogenen Ärzte aus Deutschland hätten keine Berührungspunkte mit den schweizerischen Sozialversicherungsträgern oder der hier ansässigen Privatassekuranz. «Dies kommt unserem Credo, wonach die für uns tätigen Versicherungsmediziner frei von Interessenbindungen sein müssen, sehr entgegen», teilt das Unternehmen mit.

Den Begriff «Flugärzte» hält die SMAB AG für despektierlich: «Unsere Gutachterinnen und Gutachter reisen jeweils in die Schweiz ein, in aller Regel mit dem Auto oder dem Zug.» In der Folge seien sie am Einsatzort zumeist mehrere Tage lang gutachterlich tätig.

* Name der Redaktion bekannt

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