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Gutachter werden vergoldet
Dank IV: Ärzte scheffeln Millionen

Ein Berner Arzt hat für IV-Gutachten 3,1 Millionen Franken erhalten. Der Mann ist bekannt dafür, kaum jemanden für arbeitsunfähig zu erklären – und er ist kein Einzelfall.
Publiziert: 09.11.2019 um 23:34 Uhr
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Aktualisiert: 09.11.2020 um 12:07 Uhr
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Der Berner Arzt L. hat mit IV-Gutachten seit 2012 rund 3,1 Millionen Franken verdient. Der Mann ist bekannt dafür, kaum jemanden für arbeitsunfähig zu erklären.
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Thomas Schlittler

Verena Meier* ist 38 Jahre alt, als sie an einer Depression erkrankt. Die Pflegefachfrau muss drei Wochen in Therapie. Dann geht die junge Frau wieder ihrem Beruf nach, muss aber immer wieder in psy­chiatrische Behandlung.

Nach einem Stellenwechsel geht gar nichts mehr. Ihr Therapeut konstatiert «latente Suizidgedanken». Ein zweiter Arzt stuft sie als berufsunfähig ein. Ein dritter diagnostiziert ebenfalls 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen.

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Meier muss ihren Job aufgeben und beantragt eine Invalidenrente. Die IV-Stelle des Kantons Zürich gibt bei Dr. K.** (55) aus Bern ein externes Gutachten in Auftrag. K.s Diagnose: Die depressive Störung habe nachgelassen. Im Gegensatz zu allen Ärzten vor ihm erkennt er keine Krankheit, erklärt die Frau für 100 Prozent arbeitsfähig. Da­raufhin lehnt die IV ihren Antrag auf eine Rente ab.

Eineinhalb Jahre später nimmt sich Verena Meier das Leben, am 27. September 2010. Im Sommer des folgenden Jahres wird K. um einen Ergänzungsbericht zum Fall gebeten. Darin hält er an seiner Diagnose fest: Die Verstor­bene sei weder psychisch krank noch arbeitsunfähig gewesen.

Unter Juristen ist K. be­rüch­tigt für die Gesunderklärung von Patienten. Der Zuger Versicherungsanwalt Rainer Deecke (39) sagt: «Ich kenne keinen Anwalt, der je ein Gutachten von Dr. K. zu Gesicht bekommen hätte, in welchem eine relevante Arbeitsunfähigkeit attestiert worden wäre.»

Trotzdem – oder gerade deshalb – ist K. als IV-Gutachter gefragter denn je. Allein 2018 erhielt er von kantonalen IV-Stellen 334'000 Franken.

1,9 Millionen Franken für IV-Einschätzungen

Seit 2012 kassierte K. für die medizinische Einschätzung von IV-Antragstellern 1,9 Millionen Franken. Das zeigt ein Dokument des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), das SonntagsBlick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat.

Darin ist aufgelistet, welche Summen Ärzte und Kliniken zwischen 2012 und 2018 von kantonalen IV-Stellen erhalten haben. Eine Auswertung beweist, was Kritiker der heutigen Vergabepraxis schon lange vermuten: Die IV-Stellen vergeben die Aufträge für Gutachten extrem einseitig.

2018 bezahlten sie 683 Ärzte und Kliniken für die Erstellung von sogenannten monodisziplinären medizinischen Gutachten. Insgesamt vergüteten die IV-Stellen dafür 29,5 Millionen. Dabei erhielten zehn Prozent der Gutachter rund drei Viertel des gesamten Auftragsvolumens.

2018 bezahlten die kantonalen IV-Stellen 683 Ärzte und Kliniken für die Erstellung von sogenannten monodisziplinären medizinischen Gutachten. Insgesamt vergüteten die IV-Stellen dafür 29,5 Millionen. Dabei erhielten zehn Prozent der Gutachter rund drei Viertel des gesamten Auftragsvolumens.

Anwälte, Behindertenorganisa­tionen und auch Ärzte monieren, dass Gutachter, die von den IV-Stellen Millionen erhalten, nicht mehr unabhängig urteilen. Sie sehen in der Ungleichverteilung einen Hinweis darauf, dass die IV-Stellen Gutachter bevorzugen, die in ihrem Sinne urteilen – also gegen eine Arbeitsunfähigkeit und damit gegen eine Rente.

Der St. Galler Anwalt Ronald Pedergnana (57) sagt: «Gutachter, die im Sinne der IV ein Gutachten abfassen, kriegen wieder und massenhaft Aufträge. Andere werden nicht einmal berücksichtigt.»

Als Beleg dafür verweisen die Kritiker nicht nur auf Dr. K., sondern auch auf andere Ärzte. Zum Beispiel auf Dr. G.** (64) aus Basel. Der erhielt seit 2012 ebenfalls rund 1,9 Millionen für monodisziplinäre IV-Gutachten.

Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz konnte die Behinderten­organisation Procap einen kleinen Teil von G.s Gutachten einsehen. Ergebnis: Von den 23 Patienten, die der Mediziner im ersten Halbjahr 2018 für die IV-Stelle der Stadt Basel beurteilte, stellte er nur bei jedem vierten eine Arbeitsunfähigkeit fest.

Alle anderen Gutachter zusammen, die im selben Zeitraum für die Basler IV-Stelle 187 Gutachten erstellten, diagnostizierten durchschnittlich bei jedem zweiten Patienten eine Arbeitsunfähigkeit.

Noch schlechtere Chancen, für arbeitsunfähig erklärt zu werden, haben Patienten, die zu Dr. L.** (59) geschickt werden. Der Arzt, der ebenfalls in Bern praktiziert, stellt gemäss Recherchen des Solothurner Rechtsanwalts und SVP-Politikers Rémy Wyssmann nicht einmal bei jedem zehnten Patienten eine relevante Arbeitsunfähigkeit fest: «Dank dem kantonalen Öffentlichkeitsgesetz konnte ich sämtliche 59 Gutachten einsehen, welche die IV-Stelle Solothurn zwischen 2012 und 2014 bei Dr. L. in Auftrag gegeben hat. Demnach hat er nur in 5 von 59 Fällen eine Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent oder mehr festgestellt.»

«Gewisse Fehlleistungen»

Die Expertise von L. wurde auch schon vom Kantonsgericht Luzern in Zweifel gezogen. 2015 erging ein Urteil, gemäss dem auf L.s Gutachten nicht abgestellt werden könne. In dem Beschluss ist von einer «gewissen Fehlleistung des Untersuchers» die Rede.

Geschadet hat es Dr. L. nicht. Er stellt nach wie vor Gutachten um Gutachten aus. Seit 2012 hat er von den verschiedenen IV-Stellen insgesamt 3,1 Millionen Franken kassiert.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) sieht trotz allem kein Problem darin, dass einzelne Ärzte von den IV-Stellen Millionen erhalten. Die Unabhängigkeit der Gutachter sei gewährleistet. Sprecher Harald Sohns: «Mit einem prozentualen Anteil bestimmter Arbeitsunfähigkeitsgrade kann sachlich fundiert keine qualitative Beurteilung einer Gutachtertätigkeit vorgenommen werden.»

Auf die Frage, was geschehen müsse, damit Gutachter als einseitig eingestuft und aus dem Verkehr gezogen werden, antwortet Sohns: «Ist belegt, dass ein Gutachter wiederholt die gestellten Anforderungen – versicherungsmedizinisch und juristisch – nicht erfüllt, so wird auf eine weitere Zusammenarbeit verzichtet.» Wie oft das geschieht, kann das BSV nicht sagen. Die Rückweisung von Gutachten durch ein Gericht sei jedoch im Einzelfall kein genügender Grund, weitere Gutachten nicht mehr in Auftrag zu geben.

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Und was sagen die kritisierten Ärzte zu den Vorwürfen?

Dr. K. (IV-Einkommen: 1,9 Millionen Franken) teilt mit, dass er «wegen des Schutzes der Persönlichkeitsrechte» auf Einzelfälle nicht eingehen könne. Im Zentrum seiner Beurteilung stünden aber stets objektive, tatsächlich erkennbare und überprüfbare Defizite der Betroffenen. Es liege jedoch in der Natur der Sache, dass «aus unterschiedlichen Blickwinkeln unterschiedliche Einschätzungen» resultierten.

Dr. G. (IV-Einkommen: 1,9 Mio. Franken) lässt ausrichten, dass er seine Gutachten gemäss den Vorgaben des Bundesamtes für Sozialversicherungen und den gesetzlichen Grundlagen entsprechend erstelle. Er betont: «Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen beurteilen die Gerichte die von mir verfassten Gutachten in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als überzeugend.»

Dr. L. (IV-Einkommen: 3,1 Mio. Franken) wollte sich trotz mehrfacher Kontaktaufnahme von SonntagsBlick nicht zum Vorwurf der Parteilichkeit äussern.

* Name von der Redaktion geändert

** Name der Redaktion bekannt

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