Denken Sie an die Begriffe «kahlköpfig», «vergesslich» und «Falten». Intuitiv lesen Sie die folgenden Zeilen einen Tick langsamer. Denn ohne sich darüber im Klaren zu sein, fühlen Sie sich ein Stückchen älter. Die Verhaltenspsychologie nennt dies den Priming-Effekt. Das Unterbewusstsein bestimmt das Sein.
Eine Variante des Experiments geht so: Einem Lehrer wird suggeriert, der eine Schüler sei hochbegabt, der andere tauge nichts. Obwohl in Wahrheit beide gleich schlau sind, wird der Lehrer den Schüler mit dem guten Ruf instinktiv so fördern, dass dieser obenaus schwingt. Der angeblich hoffnungslose Fall indes bleibt unter seinen Möglichkeiten.
Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie seien ein Arzt mit eigener Praxis. Die Invalidenversicherung engagiert Sie regelmässig als Gutachter, um abzuklären, ob jemand Anspruch auf eine IV-Rente hat. Natürlich wissen Sie, dass Ihr Auftraggeber desto zufriedener ist, je weniger IV-Renten er ausrichten muss.
Wie werden Sie sich verhalten?
Mein Kollege Thomas Schlittler präsentiert im aktuellen SonntagsBlick eine brisante Recherche: Gewisse Ärzte erzielen mit Gutachten für die IV horrende Umsätze. Sie leben von der IV und sie leben gut davon. Da darf es nicht erstaunen, wenn diese Mediziner intuitiv im Sinne der IV entscheiden und kranke Menschen zu Simulanten stempeln.
Der Gutachter wird zum Schlechtmacher.
Das Bundesgericht hat diese Gefahr schon 2013 erkannt. In einem Leiturteil wies es die kantonalen IV-Stellen deswegen an, externe Gutachter nach dem Zufallsprinzip auszuwählen. Eine entsprechende Internetplattform gibt es seit 2012.
Hier aber wird die Geschichte definitiv zum Skandal: Die IV-Stellen setzen sich über die Vorgabe des Bundesgerichts hinweg. Dies zeigt eine bislang unbeachtete Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Demnach vergeben die IV-Stellen den Grossteil der Aufträge für externe Gutachten nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern freihändig an ihnen genehme Ärzte. In den beiden Basel passiert dies sogar in neun von zehn Fällen.
Es geht also keineswegs nur darum, dass ein Arzt wegen seiner Abhängigkeit von der IV parteiisch sein könnte. Es geht vielmehr darum, dass die IV-Stellen systematisch auf diese Parteilichkeit bauen. Sie stützen sich auf die Grundlagen der Verhaltenspsychologie und bestellen Gefälligkeitsgutachten.
Dazu passt ein weiterer Befund. Die Autoren der zitierten Zürcher Studie äussern den Verdacht, die Patienten würden durch die Behörden «unzureichend über ihre Rechte aufgeklärt».
In einer Broschüre über die IV schreibt Sozialminister Alain Berset: «Sie gibt den Schwachen unserer Gesellschaft eine Perspektive.» Und: «Das gehört zu einer lebenswerten, sozialen und solidarischen Schweiz.»
Schöne Worte! Umso krasser wirkt die Realität. IV-Stellen arbeiten vorsätzlich gegen die von Berset so rührend erwähnten Schwachen der Gesellschaft. In der Sprache der Psychologie handelt es sich um ein pathologisches Fehlverhalten. Man kann es allerdings auch ganz einfach den grossen IV-Betrug nennen.