In Winterjacke und Mütze sitzt Ivica K.* (28) in seinem Lieferwagen. Der Paketbote ist in der Region Zürich für Planzer unterwegs. Er macht gerade ein paar Minuten Mittagspause, als ihn SonntagsBlick per Videocall erreicht.
Aber keine Spur von Entspannung. Ivica K. ist müde – und ärgert sich: «Die täglichen Zielvorgaben, die ein Algorithmus vorgibt, sind absolut unrealistisch, nicht zu erreichen!» Das führe fast immer zu Überstunden – obwohl sein Vertrag mit Planzer schon eine 48-Stunden-Woche vorsieht: «Alleine in der vergangenen Woche habe ich 58 Stunden gearbeitet.»
Ivica K. ist kein Einzelfall – ebenso wenig wie Planzer. Die Arbeitsbedingungen in der Paketzustellung sind überall schwierig, teilweise sogar prekär. Der Boom des Onlinehandels, der durch Corona zusätzlichen Schub erhielt, hat die Situation weiter verschärft. Es mangelt an Personal, der Druck auf jeden einzelnen Angestellten ist gestiegen.
«Unmögliches Pensum»
«Besonders in der Zeit um Black Friday und Weihnachten wird den Fahrern teils ein unmögliches Pensum zugemutet», sagt Urs Zbinden, der sich bei der Gewerkschaft Syndicom um die Zustellbranche kümmert. Das könne gefährlich sein. Wenn Ruhezeiten und Höchstarbeitszeiten nicht eingehalten würden, seien die Fahrer übermüdet und unter Umständen ein Risiko für andere Verkehrsteilnehmer. «Und das zum Teil mit Fahrzeugen, die überladen sind und deshalb einen längeren Bremsweg haben.»
Vergleichsweise komfortabel ist der Dienst für Fahrer, die bei der Post angestellt sind. Darüber sind sich Gewerkschafter und Paketboten einig. Ein Zuckerschlecken ist das Leben als Kurier aber auch beim Staatsbetrieb nicht. Selbst Konzernchef Roberto Cirillo (51) sagt im Gespräch mit SonntagsBlick: «Unsere Zusteller – ob Brief, Paket oder die gemischte Zustellung – haben eine sehr schwere Arbeit. Sie sind stark gefordert und haben wenig Zeit, um ihre Aufgabe zu erfüllen.»
Laut Cirillo ist das vor allem eine Folge des freien Markts für die Paketzustellung in der Schweiz: «Wir haben im Kerngeschäft mehr als 90 Prozent Geschäftskunden – und diese schauen sehr genau auf die Preise.» Am schwierigsten ist die Situation für Temporäre und Angestellte von Subunternehmen, die im Auftrag der Post arbeiten. Sie profitieren nicht von einem GAV und werden vom gelben Riesen nur gebraucht, um die Spitzen zu brechen, insbesondere im Weihnachtsgeschäft.
Cirillo macht Hoffnung auf Besserung
Doch nun macht Cirillo Hoffnung, dass der harte Wettbewerb in der Zustellung bald nicht mehr auf dem Buckel der Angestellten ausgetragen wird – oder zumindest nicht mehr ganz so stark: Seit rund einem Jahr feilschen die Post sowie die privaten Branchenriesen DHL, DPD und Planzer mit den Gewerkschaften um einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für den gesamten Sektor. Dazu Cirillo: «Die Verhandlungen sind weit fortgeschritten. Ich bin sehr optimistisch, dass wir bald eine unterschriftsreife Einigung erzielen.»
Gewisse Mindeststandards für den Postsektor gibt es zwar schon heute. Erst letzte Woche hat die Eidgenössische Postkommission den Bruttomindeststundenlohn im Postsektor erhöht, von 18.27 Franken auf 19 Franken. Ein Branchen-GAV würde jedoch über solche Mindestlohn-Vorgaben hinausgehen und auch die Arbeitszeiterfassung, Ferien- und Kompensationsansprüche regeln – und das je nach Ausbildung und Aufgabe der Kuriere.
Ob der neue GAV bereits kommende Weihnachten allgemein verbindlich sein wird oder erst ein Jahr später, darüber will Post-Chef Cirillo nicht spekulieren. Er hält aber fest: «Wichtig ist, dass wir bald einen neuen sektoriellen GAV haben, mit dem wir als Industrie unserer sozialen Verantwortung gerecht werden.»
Gewerkschafter warnt
Gewerkschafter Zbinden sieht das genauso, fügt jedoch warnend hinzu, dass der GAV nur dann etwas bringe, wenn die Einhaltung seiner Bestimmungen systematisch kontrolliert und Verstösse sanktioniert würden.
Wie wichtig das wäre, zeigt auch das Beispiel von Mirco M.* (31). Er arbeitet seit vier Jahren für DPD in der Ostschweiz und berichtet wie sein Berufskollege Ivica K. bei Planzer von Zeitplänen, die nicht zu schaffen sind – und von unzähligen Überstunden, die daraus resultieren: «Mein Arbeitstag dauert oft bis zu 14 Stunden, von 5.30 Uhr bis nach 20 Uhr.»
Überstunden werden oft nicht ausbezahlt
Das Schlimmste dabei: Oft würden die Überstunden nicht einmal ausbezahlt, weil man sie gar nicht korrekt erfasse. «Die Mitarbeiter müssen per Unterschrift bestätigen, dass sie nicht mehr als die abgemachten 44 Stunden gearbeitet haben – auch wenn das oft nicht stimmt», so M. Die meisten unterschreiben das Formular trotzdem: «Entweder, weil sie kaum Deutsch sprechen und nicht wirklich wissen, worum es geht. Oder weil sie kaum eine berufliche Alternative haben und deshalb den Job nicht verlieren wollen.»
DPD teilt auf Anfrage von SonntagsBlick mit, man habe von diesem «konkreten anonymen Fall» keine Kenntnis und könne daher auch nicht Stellung dazu nehmen. Die geschilderten Arbeitsbedingungen würden jedoch gegen die internen Vorgaben verstossen.
Planzer wiederum betont, im Unternehmen verfolge man das Ziel, den Mitarbeitenden «die allerbesten Rahmenbedingungen» zu bieten. Man wolle, dass die Fahrer stolz seien, bei Planzer arbeiten zu dürfen. «Jeder einzelne Fall, der noch nicht dort ist, ist einer zu viel», so ein Sprecher.
Die Schilderungen aus Zürich nehme man daher «sehr ernst und selbstkritisch» entgegen und überprüfe die Vorwürfe.