Jan-Egbert Sturm (53) empfängt Blick in seinem lichtdurchfluteten Eckbüro an der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH in Zürich. Der Raum wird dominiert von einem grossen Büchergestell, das aber vor allem noch als Hintergrund für Foto- und Videoaufnahmen dient. «Ich lese das allermeiste nur noch elektronisch», sagt der KOF-Direktor, der mit seinen Wirtschaftsprognosen zu den bedeutendsten Ökonomen der Schweiz gehört.
Blick: Gemäss Ihren Prognosen wächst die Schweizer Wirtschaft im kommenden Jahr noch um 0,7 Prozent, die Weltwirtschaft um 0,5 Prozent. Was macht die Schweiz besser?
Jan-Egbert Sturm: Es ist immer die Frage, wie man die Weltwirtschaft genau misst. Aber wenn man sich die Schweizer Brille aufsetzt und dann die Welt anschaut, dann gibt man den Ländern, mit denen wir viel Handel treiben, ein grösseres Gewicht. Das gilt gerade für Europa und insbesondere Deutschland, das in einer Rezession steckt. Wir dagegen stehen stabiler da, produzieren weniger energieintensiv und profitieren öfters mal von Instabilität in der Welt. Die Schweiz steht für Stabilität, Sicherheit und Qualität. Das ist gerade in solch unsicheren Zeiten gefragt. Die Welt schwächelt, die Schweiz zeigt Stärke.
Wie dramatisch ist das geringe Wachstum der Weltwirtschaft?
Die Weltkonjunktur durchlebt eine sehr deutliche Schwächephase. Das ist nicht gut. Die für die Schweiz relevante Weltwirtschaft wächst normalerweise nicht nur mit einem halben Prozent. Einige Länder werden in eine Rezession abgleiten. Aber das schwache Wachstum ist nicht mit der Finanzkrise oder der Pandemie zu vergleichen, als die Weltwirtschaft tatsächlich geschrumpft ist.
Was ist denn anders?
Wir werden zwar bei der Wertschöpfung eine Schwächephase durchleben. Aber der Arbeitsmarkt – das sieht man in allen westlichen Ländern – ist wirklich sehr gut aufgestellt. Die Jobsicherheit ist gegeben. Die Firmen haben gelernt, dass man eine relativ kurze Phase der Schwäche besser gemeinsam mit der Belegschaft überstehen kann, als wenn man sie auf die Strasse stellen würde. Im Gegenteil: Der Fachkräftemangel – der Arbeitskräftemangel im Allgemeinen – ist hoch.
Ein robuster Arbeitsmarkt in einer Schwächephase – das ist ein neues Phänomen.
Das ist sicher nicht das, was wir in den Lehrbüchern normalerweise lesen: ein Abschwung zusammen mit einer Arbeitslosenquote, die nach oben schnellt. Das sehen wir nicht. Wir realisieren immer mehr, wie wichtig es ist, dass wir überhaupt das Personal haben, um das Geschäft vorwärtstreiben zu können.
Das gilt auch für die Schweiz?
Der Schweizer Arbeitsmarkt ist sehr robust. Auch wenn gewisse Firmen in diesem Winter Probleme haben werden, wird das die Arbeitslosigkeit nicht stark ansteigen lassen. Durch die Erfahrungen nach der Pandemie sind viele Firmen zurückhaltend mit Entlassungen geworden.
Wie gross ist die Gefahr einer Rezession in der Schweiz?
In der Schweiz droht keine Rezession. Es ist zwar eine Schwächephase, aber im Grossen und Ganzen werden die Firmen diese Schwäche gut überbrücken können, da die Auftragsbücher immer noch recht gut gefüllt sind.
Wie wird die Schweizer Wirtschaft ins neue Jahr starten?
Es ist nicht mal so unwahrscheinlich, dass gleich das erste Quartal negativ sein wird. Das hat mit der Fussballweltmeisterschaft zu tun. Die Einnahmen der Fifa an der WM in Katar trugen im letzten Quartal 2022 zur Schweizer Wertschöpfung bei. Diese Einnahmen fehlen im ersten Quartal 2023. Das ist aber eher ein technisches Phänomen und hat nicht viel mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun.
Welche Branchen leiden denn am meisten unter dieser Schwächephase?
Die Industrie, die exportorientierten Unternehmen leiden immer am stärksten unter einer internationalen wirtschaftlichen Abschwächung. Aber gerade die Industrie ist in den letzten Jahren stark gewachsen, nicht nur Chemie und Pharma, sondern eben auch die anderen Industriebereiche. Diese Branchen haben es in den letzten Jahren sehr gut gemacht. Das hilft jetzt, diese Durststrecke zu überstehen.
Jan-Egbert Sturm (55) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Zuvor war der gebürtige Holländer Volkswirtschaftsprofessor an mehreren Unis in seinem Heimatland, in Australien und Deutschland. Als Vizepräsident der Schweizer Corona-Taskforce hat Sturm den Bundesrat während der Pandemie beraten. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.
Jan-Egbert Sturm (55) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Zuvor war der gebürtige Holländer Volkswirtschaftsprofessor an mehreren Unis in seinem Heimatland, in Australien und Deutschland. Als Vizepräsident der Schweizer Corona-Taskforce hat Sturm den Bundesrat während der Pandemie beraten. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.
Und sonst?
Im Baubereich sehen wir schon seit einigen Jahren, dass es laut den offiziellen Zahlen nicht gut läuft. Wenn man aber mit den Firmen selber spricht, dann ist die Stimmung gar nicht so negativ. Aber da muss man dann schauen, welche Reaktion die Zinswende mit Verzögerungen in dieser Branche mit sich bringt. Da ist etwas Vorsicht angebracht.
Apropos Zinsen – wie stark wird die Nationalbank die Zinsen noch anheben?
In unserer jüngsten Prognose gehen wir davon aus, dass die SNB den Leitzins auf ein Niveau von 1,5 Prozent anheben wird.
Die Häuserpreise steigen viel langsamer als in der Vergangenheit. Droht bald eine Immo-Krise?
Es gibt schon seit einigen Jahren ein gewisses Risiko für einen Einbruch auf dem Immobilienmarkt. Aber ich erwarte nicht, dass das aktuell passieren wird. Denn durch die Zuwanderung kommen weiterhin positive Impulse für den Immobilienmarkt. Zudem sind die öffentlichen Töpfe für die Finanzierung von Infrastrukturbauten gut gefüllt. Es gibt in diesem Bereich einige bereits geplante Bauvorhaben.
Der Konsum ist eine wichtige Stütze der Wirtschaft. Sind die Konsumenten in Kauflaune?
Die Konsumentenstimmung in der Schweiz ist auf einem historischen Tiefpunkt. Das überrascht aber nur auf den ersten Blick. Die Stimmung ist sehr stark geprägt durch die Probleme, die wir um uns herum sehen. Wir lesen jeden Tag über den Krieg in der Ukraine, sehen die politischen Spannungen zwischen den USA, Europa und China, fürchten die Energiekrise. All das schlägt sich in der Konsumentenstimmung nieder. Doch das Verhalten der Konsumenten ist glücklicherweise nicht im Einklang mit ihrer Stimmungslage.
Weshalb?
Die Arbeitsmarktsituation wird weiterhin gut bleiben, die Einkommensentwicklung normalisiert sich, die Sparquote ist immer noch höher als vor der Pandemie. Unterm Strich zeichnet sich deswegen keine Zurückhaltung beim Konsum ab. Der Konsum bleibt der stabilisierende Faktor in der Schweizer Wirtschaft. Die Exportwirtschaft leidet stärker, die Binnenkonjunktur bleibt robust.
Aber das Leben wird noch teurer?
Wir haben das Gesamtphänomen Inflation unterschätzt, weil wir ja nicht ahnen konnten, dass es einen Krieg gibt. Der Ukraine-Krieg hat die Energiepreise, vor allem in Europa die Gaspreise, nach oben getrieben. Ohne diesen Krieg hätten wir diesen Teuerungsanstieg so nicht gesehen. Wegen der Basiseffekte werden die Energiepreise nun aus der Inflationsrate verschwinden. Aber es sind ja nicht nur die Energiepreise gestiegen, die Inflation hat sich inzwischen in der ganzen Wirtschaft ausgebreitet.
Mit welchen Folgen?
Es gibt diese sogenannten Zweitrunden-Effekte, die schlagen sich jetzt in der Inflationsrate nieder. Viele Firmen antworten in unseren Umfragen, dass sie in der nächsten Zeit vorhaben, die Preise zu erhöhen. Es gibt zwei gegenläufige Bewegungen, die Basiseffekte verschwinden, die Zweitrundeneffekte nehmen zu. Aber unterm Strich wird die Inflationsrate sinken.