«Rückgang des Reallohns war so nicht eingeplant»
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ETH-Ökonom Jan-Egbert Sturm:«Rückgang des Reallohns war so nicht eingeplant»

ETH-Ökonom erklärt die Schweizer Wirtschaft
Herr Sturm, wann geht die Teuerung zurück?

Der ETH-Ökonom Jan-Egbert Sturm sieht für die Schweiz einen harten Winter mit stagnierender Wirtschaft voraus – aber die Nation sei widerstandsfähig.
Publiziert: 13.11.2022 um 11:52 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2022 um 13:18 Uhr
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«Wir leben in einer politisch und wirtschaftlich instabileren Welt», sagt der ETH-Ökonom Jan-Egbert Sturm im Interview mit SonntagsBlick.
Foto: Siggi Bucher
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Sven ZauggRedaktor SonntagsBlick

SonntagsBlick: Herr Sturm, in Europa herrscht Krieg, die atomare Bedrohung ist real. Mit Russland, China, Indien und dem Iran bilden sich neue Machtblöcke. Klimakrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Währungskrise und Corona-Krise kommen hinzu. Die Welt ist doch von Sinnen. Stimmen Sie mir zu?

Jan-Egbert Sturm: Vielleicht ist die Welt nicht von Sinnen, aber es hat sich vieles auf eine Art verändert, die wir nicht für möglich hielten. Ich beobachte eine starke Polarisierung zwischen den Nationen. Sie führt dazu, «die anderen» ziemlich schnell für irrsinnig zu erklären. Ich hoffe aber schon, dass wir noch nicht komplett verrückt geworden sind.

Sie Optimist!
Die Herausforderung besteht heute darin, dass wir grosse Ereignisse nicht überinterpretieren. Erinnern Sie sich an den Shutdown in der ersten Welle der Pandemie, als praktisch alles stillstand?

Sehr genau.
Das war eine Zäsur. Dass sich das in genau gleichem Masse wiederholen könnte, ist sehr unwahrscheinlich. Wir sind heute viel besser vorbereitet. Deshalb dürfen solch einschneidende Erlebnisse nicht bestimmen, wie wir in die Zukunft schauen.

Mit Blick auf die Weltwirtschaft bin ich da etwas nervöser als Sie.
Tatsächlich ist heute vieles anders. Wir leben in einer politisch und wirtschaftlich instabileren Welt. Putin hat den Gashahn abgedreht. Das hat uns schmerzlich gezeigt, wie schwierig es ist, kurzfristig Ersatz zu finden. Nun steigen die Preise, wir müssen sparen, der Euroraum und die USA rutschen in eine Rezession. Für die Schweiz bin ich dennoch zuversichtlich.

Sagt der Ökonom, während Energiepreise und Krankenkassenprämien ein Loch in die Haushaltskassen mittelständischer Familien reissen.
Natürlich wird dieser Winter kein normaler Winter sein. Die Schweizer Wirtschaft wird stagnieren. Verglichen mit einem Shutdown sind das aber durchaus die besseren Aussichten. Im Hinblick auf die Energiekrise bedeutet dieser Winter tatsächlich eine Zäsur. Wir wissen nun, dass fossile Brennstoffe keine Zukunft haben. Das Tempo für eine grüne Wende dürfte sich dadurch deutlich erhöhen. Dafür zahlen wir jetzt innerhalb kürzester Zeit einen sehr hohen Preis. Das führt zu Wohlfahrtsverlusten. Und noch etwas ...

Ja, bitte?
In der zweiten Phase der Pandemie wurden enorme Mengen an Industriegütern konsumiert, weil Dienstleistungen einfach nicht zu haben waren. Statt eines netten Essens im Restaurant leisteten wir uns Möbel und Computer. Wenn das alle gleichzeitig tun, kommt es zwangsläufig zu Lieferengpässen. Der Welthandel für Industriegüter hat in den letzten Jahren einen starken Zuwachs erlebt.

Gleichzeitig müssen sich Unternehmen inzwischen entscheiden zwischen Geschäften in den USA und Europa auf der einen Seite sowie Russland und China auf der anderen. Die Angst vor einer Deglobalisierung geht um.
Es findet tatsächlich eine Blockbildung in ausgeprägtem Masse statt. Das erhöht die politischen Risiken für Unternehmen und veranlasst sie, sich neu zu orientieren, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass es in Zukunft weniger internationalen Handel gibt – er wird nur teilweise zwischen einer kleineren Gruppe von Ländern stattfinden. Das birgt natürlich auch Risiken. Makroökonomisch betrachtet ist es das Gegenteil von Diversifizierung und führt teilweise zur Despezialisierung. Hiermit geht ein wesentlicher Treiber unseres derzeitigen Wohlstands verloren.

Lange galt im Westen die Devise: Frieden durch Handel. Man hat das Gefühl, dass die Gleichung nicht mehr stimmt.
Sie stimmt immer noch! Wirtschaftliche Zusammenarbeit bleibt die relevante Grösse. Auch Putin realisiert, dass sein Land abhängig von anderen Nationen ist. Eine Welt, in der sich alle abschotten, ist unvorstellbar. Dieses Möbel (klopft auf die Tischplatte) wurde nie und nimmer zu hundert Prozent in der Schweiz hergestellt. Die Uhren, die wir produzieren, können wir uns ja nicht alle selbst ums Handgelenk legen. Wir haben uns so stark spezialisiert und vom Ausland abhängig gemacht, weil es uns Effizienzgewinne und damit Fortschritt bringt. Eines müssen wir uns aber vorwerfen.

Und zwar was?
Wir haben nicht darüber nachgedacht, ob wir resilient sind. Wir realisieren langsam, dass etwas weniger Effizienz und dafür grössere Widerstandsfähigkeit stabilisierend auf die Wirtschaft wirken. Das sehen wir bei den Lieferketten. Unternehmen bauen ihr Netzwerk aus, diversifizieren ihre Logistik und reduzieren dadurch das Risiko, wenn ein Lieferant ausfällt.

Europäischer Top-Ökonom

Jan-Egbert Sturm (53) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Das Wort des gebürtigen Holländers hat Gewicht: 2021 erreichte er Rang drei im «NZZ»-Ökonomen-Ranking, zudem sass Sturm in der Schweizer Corona-Taskforce. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.

Jan-Egbert Sturm (53) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Das Wort des gebürtigen Holländers hat Gewicht: 2021 erreichte er Rang drei im «NZZ»-Ökonomen-Ranking, zudem sass Sturm in der Schweizer Corona-Taskforce. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.

Wie resilient ist unser Land?
Resilienz entsteht durch stabile politische Institutionen, eine gesunde Gesellschaft und eine florierende Wirtschaft. All das kann die Schweiz auf sich vereinen. Wir produzieren vornehmlich Güter im Luxussegment, hochqualitative Nischenprodukte. Die Qualität bei Service und Dienstleistung stimmt. Zudem sind wir zuverlässige Partner.

Das schützt uns jedoch nicht vor der Teuerung. Wann wird sie zurückgehen?
Nicht so schnell, leider. Bis im Frühling rechne ich aufgrund der steigenden Strompreise mit Inflationsraten von bis zu 3,5 Prozent. Danach sollte sich die Lage beruhigen. Vieles hängt von der Energieversorgung ab.

Unter welchen Umständen könnte sich die Lage nochmals zuspitzen?
Wenn Putin weiterhin am Gashahn dreht und auf europäischem Boden nicht mehr genügend Strom produziert wird, dürfte uns die Teuerung weiterhin konjunkturell belasten. Vieles hängt auch von den Wartungsarbeiten bei den Atomkraftwerken in Frankreich ab. Sie produzieren derzeit nur einen Teil dessen, was sie eigentlich leisten könnten.

Der Anstieg der Inflation in den USA hat sich verlangsamt. Ist das die Trendwende?
Auch wenn es immer noch möglich ist, dass die Inflationsrate in den USA in den nächsten Monaten wieder etwas ansteigen wird, geht der zugrundeliegende Trend nun wirklich in die richtige Richtung, nämlich nach unten.

Agieren die Notenbanken mit der Erhöhung der Leitzinsen schnell genug?
So schnell sie halt können. Und weil sich Zinserhöhungen erst verzögert auf die Inflation auswirken, merken wir derzeit nicht allzu viel. Aber das kommt noch.

Unser wichtigster Handelspartner Deutschland rutscht in eine Rezession. Was bedeutet das für die Schweiz?
Weniger Handel. Wenn die deutsche Autoindustrie hustet, erkälten sich auch die hiesigen Zulieferer. Gleichzeitig profitieren die Schweizer Unternehmen vom Umbruch in der Autoindustrie, weil sie High-End-Produkte für Elektrofahrzeuge liefern und nicht etwa Dieselmotoren. Etwas stärker leiden werden Unternehmen, die Investitionsgüter herstellen, die Maschinenindustrie zum Beispiel.

Aus der Inflation resultiert heuer ein Reallohnverlust von satten 1,8 Prozent, die höchste Einbusse seit 1942. Werden wir nun immer weniger verdienen?
Wir haben einen hohen Reallohnverlust, weil wir schlicht nicht wussten, wie hoch die Inflation ausfallen wird. Es ist logisch, dass das in den Lohnverhandlungen 2021 nicht berücksichtigt werden konnte. Allerdings sind die Reallöhne in den Jahren zuvor gestiegen. Mittelfristig gleicht sich das wieder aus.

Personalmangel auf breiter Front

Trotz Energiekrise und Rezessionsängsten zeigt sich der Schweizer Stellenmarkt äusserst robust. Im Oktober ist die Arbeitslosigkeit auf den tiefsten Stand seit zwei Jahrzehnten gesunken. Ende Oktober waren 89 636 Personen arbeitslos gemeldet. Für Arbeitnehmer sind das gute Nachrichten. Umgekehrt suchen Unternehmen derzeit händeringend nach frischen Kräften. Unlängst war der Personalmangel besonders bei Fachkräften akut. Unterdessen fehlen Arbeitskräfte auf breiter Front. Besonders viele offene Stellen gibt es im Gesundheitswesen, in Produktion und Logistik sowie – dies allerdings schon länger – in der IT und im Ingenieurwesen. In einer solchen Situation sprechen Fachleute vom Arbeitnehmermarkt. Der Verhandlungsspielraum bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und zusätzlichen Leistungen ist für die Arbeitnehmenden derzeit grösser als sonst.

Trotz Energiekrise und Rezessionsängsten zeigt sich der Schweizer Stellenmarkt äusserst robust. Im Oktober ist die Arbeitslosigkeit auf den tiefsten Stand seit zwei Jahrzehnten gesunken. Ende Oktober waren 89 636 Personen arbeitslos gemeldet. Für Arbeitnehmer sind das gute Nachrichten. Umgekehrt suchen Unternehmen derzeit händeringend nach frischen Kräften. Unlängst war der Personalmangel besonders bei Fachkräften akut. Unterdessen fehlen Arbeitskräfte auf breiter Front. Besonders viele offene Stellen gibt es im Gesundheitswesen, in Produktion und Logistik sowie – dies allerdings schon länger – in der IT und im Ingenieurwesen. In einer solchen Situation sprechen Fachleute vom Arbeitnehmermarkt. Der Verhandlungsspielraum bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und zusätzlichen Leistungen ist für die Arbeitnehmenden derzeit grösser als sonst.

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