Auf einen Blick
Gerade mal zwei Monate hat es gedauert, bis der neue Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) das Unwort in den Mund genommen hat: Negativzinsen. Vor ein paar Tagen hat Martin Schlegel (48) an einer Veranstaltung ausgeführt, dass «niedrige Zinssätze und negative Zinssätze nicht von unserem Werkzeugkasten ausgeschlossen sind». Und Schlegel betonte: «Niemand mag Negativzinsen, die SNB mag keine Negativzinsen, aber wenn es notwendig ist, sind wir bereit, den nächsten Schritt zu tun.»
Auch wenn die offensive Wortwahl eines SNB-Präsidenten noch ungewohnt ist, für langjährige Beobachter kommt sie nicht völlig überraschend.
«Angesichts der Geldpolitik der letzten Jahre halte ich die Wiedereinführung von Negativzinsen – leider – für ein sehr realistisches Szenario», sagt der Ökonom Adriel Jost (39). «Wir haben uns an Negativzinsen gewöhnt, obwohl sie 2015 ursprünglich nur als Gegenschocktherapie zur Aufhebung des Mindestkurses eingeführt wurden.» Allerdings habe die SNB zu lange an dem Instrument festgehalten.
«Die Nationalbank kann nicht anders», erklärt der Geldökonom Fabio Canetg (36). «Würde sie Negativzinsen von vornherein ausschliessen, würde der Franken sofort massiv aufwerten.»
Zinsprognosen sinken rapide
Noch ist der Leitzins einige Zinsschritte vom Negativbereich entfernt, doch das könnte sich rasch ändern – der nächste Zinsschritt dürfte schon in einer Woche an der nächsten geldpolitischen Lagebeurteilung der SNB erfolgen. Offen ist, ob die Nationalbank den Satz auf 0,75 oder gar 0,5 Prozent senkt.
Immer mehr Prognostiker passen ihre Zinsprognose nach unten an. Wie zum Beispiel Raiffeisen. Die Bank sieht den Leitzins in der Schweiz schon im nächsten Sommer gegen 0 Prozent sinken. «Wenn die Nationalbank der Exportwirtschaft helfen kann, dann wird sie ihren Spielraum ausnutzen. Spielraum hat sie, da die Inflation in der Schweiz besiegt ist», heisst es auf Anfrage bei der Bank.
Im November lag die Teuerung noch bei 0,7 Prozent. Wenn sich das für die meisten anders anfühlt, hat das damit zu tun, dass zum Beispiel die stetig steigenden Krankenkassenprämien nicht im Warenkorb für die Berechnung der Inflation berücksichtigt sind. Und in der Schweiz vor allem Inlandgüter nach wie vor teurer werden.
Banken fehlt Geld für Hypotheken
Sinkende Zinsen wären ein Grund zur Freude für Eigenheimbesitzer – und solche, die es werden wollen. Kaufen ist wieder attraktiver als Mieten, trotz steigender Immobilienpreise. Doch wer ein leistbares Objekt findet, steht plötzlich vor einem neuen Problem.
«Die Banken sind ausgeschossen. Sie haben kein Geld mehr, um noch mehr Hypotheken zu vergeben», sagt Andrian Wenger (52), Hypotheken-Experte beim VZ Vermögenszentrum. «Das gilt vor allem für die Inlandbanken, die Hypotheken von UBS und CS übernommen haben.»
Die Folge: Die weiteren Zinsschritte der Nationalbank werden die Zinsen gerade für Festhypotheken nicht mehr viel weiter sinken lassen. Das sei alles schon eingepreist, heisst es bei den von Blick befragten Banken. Gemäss Wenger haben die Finanzinstitute kein grosses Interesse mehr an der Vergabe neuer Hypotheken: «Ich höre immer wieder von Kunden, dass sie Banken um eine Offerte für eine Hausfinanzierung anfragen und gar keine Antwort mehr erhalten.»
Problem könnte sich verschärfen
Die Hintergründe: Die SNB hat die Mindestreserven erhöht und nimmt den Banken Liquidität weg. Zudem wurden die Eigenmittelanforderungen für Banken nach oben angepasst. Dadurch können die Banken weniger Hypotheken finanzieren. «Das Hypothekenkapital wird somit rar, der Preis fürs Geld steigt, auch wenn der Zinstrend klar sinkend ist», erklärt Wenger.
Das Problem könnte sich noch verschärfen: Je tiefer die Zinsen fallen, desto unattraktiver wird es, Geld auf dem Sparkonto zu bunkern. Allerdings brauchen die Banken diese Spargelder, um damit Kredite an Hausbesitzer und -käufer zu vergeben. Rund 90 Prozent der Hypotheken in der Schweiz sind mit den Spargeldern der anderen Bankkunden finanziert.
Nicht ohne Nebenwirkungen
Die letzte Phase der Negativzinsen hat gezeigt, die Kleinsparer wurden für ihre Einlagen nicht zur Kasse gebeten. Selbst als der Leitzins zwischen Anfang 2015 und Mitte 2022 bei minus 0,75 Prozent lag, fielen die Sparzinsen nicht unter Null. Umgekehrt können auch Hypothekarschuldner nicht von Negativzinsen profitieren, da sich die Banken vertraglich abgesichert haben. Der Ausgangszins für die Berechnung einer Hypothek kann auch nicht unter Null fallen.
Viele denken mit grossem Unbehagen an die Zeit der Negativzinsen zurück. Denn wie es Adriel Jost auf den Punkt bringt: «Negativzinsen gibt es nicht umsonst. Ohne Nebenwirkungen geht es nicht.» Angefangen bei den Pensionskassen, denen die sicheren Anlagen für die Verzinsung der Altersguthaben fehlen, über heiss laufende Aktien- und Immobilienmärkte bis hin zu Firmen, die in riskante Projekte investieren, die sich in normalen nie rechnen würden.