Millionen Franken für Afghanistan
Auch die Taliban profitieren von Spendengeldern

Millionen Afghaninnen und Afghanen leiden Not. Entsprechend fliessen auch Millionen Hilfsgelder ins Land. Doch davon profitiert nicht nur die notleidende Bevölkerung. Sondern auch die Taliban. Mit Spendengeldern werden auch Taliban-Kämpfer medizinisch versorgt.
Publiziert: 14.09.2021 um 01:45 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2021 um 08:21 Uhr
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Aussenminister Ignazio Cassis (60) und UNO-Generalsekretär Antonio Guterres (72) an der Geberkonferenz für Afghanistan in Genf.
Foto: keystone-sda.ch
Sarah Frattaroli

Alles, was in der internationalen Welt der Diplomatie Rang und Namen hat, ist am Montag nach Genf gepilgert. Aussenminister Ignazio Cassis (60) hielt dort die erste Geberkonferenz für Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban ab.

600 Millionen Dollar humanitäre Hilfe fordern UNO-Organisationen für Afghanistan. An der Geberkonferenz sagte die Staatengemeinschaft dann sogar eine Milliarde zu. Die Schweiz hat bisher rund 60 Millionen gesprochen.

Die Hälfte der 38 Millionen Afghaninnen und Afghanen benötigt Essensrationen, Wasser oder Medikamente, warnt die Uno. Jeder Dritte im Land weiss nicht, wo seine nächste Mahlzeit herkommt.

Glückskette hat schon 2 Millionen gesammelt

Millionen aus internationalen Spendenkassen sollen das nun ändern. Neben der globalen Staatengemeinschaft sammeln private Organisationen, auch in der Schweiz. Die Glückskette etwa hat Ende August, pünktlich zum Abzug der letzten US-Soldaten, einen Spendenappell lanciert. In der Zwischenzeit sind über 2 Millionen Franken zusammengekommen, wie es auf Anfrage von Blick heisst.

Nur: Wohin mit dem Geld? Wie sicherstellen, dass es nicht an die Taliban gelangt, sondern tatsächlich den Kriegsopfern zugutekommt? Die Gelder der Glückskette fliessen an Schweizer Partnerhilfswerke vor Ort, erklärt Sprecherin Judith Schuler: «Unsere Partnerhilfswerke arbeiten direkt mit der betroffenen Bevölkerung. Keine Gelder werden über die lokalen Behörden ausgezahlt und in keinem Fall leisten Partnerhilfswerke Hilfe an oder durch die Taliban.»

MSF steht im Dialog mit den Taliban

Zu den Partnern in Afghanistan gehört etwa die weltweit tätige Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) mit Hauptsitz in Genf. Sie hat vor Ort rund 2400 Mitarbeiter, darunter auch weiterhin internationales Personal, das sich gegen eine Evakuierung entschieden hat.

MSF betreibt in fünf Provinzen Gesundheitskliniken. Damit diese weiterarbeiten können, sei man auch auf die Taliban angewiesen, gibt die MSF-Delegierte Sibylle Berger zu: «Sie müssen uns garantieren, dass wir nicht angegriffen werden. Und, dass wir unsere Arbeit unabhängig ausführen können. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wo und wem wir helfen.»

Hilfsgelder machen 40 Prozent des afghanischen BIP aus

Aber auch wenn sich MSF von den Taliban nicht dreinreden lassen will, profitieren diese doch auf vielerlei Art und Weise von der Hilfe: Afghanistan hängt seit Jahrzehnten am Tropf internationaler Hilfsgelder. Laut der Weltbank machen diese mehr als 40 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus. Jetzt, wo die Taliban an der Macht sind, können sie es sich schlicht nicht leisten, auf diesen einträglichen Wirtschaftssektor zu verzichten. Sie haben Hilfsorganisationen denn auch dezidiert dazu aufgefordert, im Land zu bleiben.

Und das ist alles andere als ein Akt der Menschlichkeit. Laut Judith Schuler von der Glückskette verlieren die Taliban ohne die Hilfsgelder auch den Rückhalt in der Bevölkerung. «Die Taliban benötigen humanitäre Hilfe, um eine grössere humanitäre Katastrophe im Land zu vermeiden. Sie haben ein politisches Interesse daran, die Hilfswerke arbeiten zu lassen.»

Taliban-Kämpfer erhalten Hilfe in MSF-Kliniken

Aber die Taliban profitieren gar noch viel direkter von den Spendengeldern. MSF versorgt in seinen Kliniken nämlich auch verwundete Taliban-Kämpfer. Sibylle Berger begründet das mit den humanitären Prinzipien: «Wir fragen nicht nach und wir diskriminieren auch nicht. Weder aufgrund der Religion, noch der sexuellen Ausrichtung, noch der Zugehörigkeit zur einen oder der anderen Seite des Konflikts. Wir folgen allein der medizinischen Ethik: Wer Hilfe braucht, wird behandelt.»

In der Schweiz werde man vor einer Notoperation im Spital schliesslich auch nicht nach dem Strafregisterauszug gefragt, so Berger.

Wenn also auch die Taliban von den Spenden profitieren – sollte man dann überhaupt spenden? Ja, finden Hilfsorganisationen. Denn selbst wenn einige Hilfsgüter an die Taliban fallen, so sei dies im grösseren Ganzen doch ein verschwindend kleiner Teil. Sibylle Berger von MSF rechnet vor, dass Kriegsverletzte, darunter verwundete Taliban-Kämpfer, nur den kleinsten Teil ihrer Arbeit ausmachen: «Selbst wenn Krieg herrscht, kommen trotzdem Babys zur Welt. Kürzlich haben wir in einem einzigen unserer Projekte in Afghanistan in nur einer Woche mehr als 300 Geburten begleitet.»

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Vorsorglich Hilfsgüter ins Land geschafft

Gerade angesichts der chaotischen Lage vor Ort rät die Stiftung Zewo, die vertrauenswürdige Hilfswerke mit einem Gütesiegel ausstattet, in Afghanistan nur erfahrene Hilfswerke zu unterstützen.

Damit brüstet sich unter anderem MSF. Die Organisation leistet auch in anderen Konfliktgebieten Hilfe, etwa in Syrien, im Irak oder in Jemen. Genau diese Erfahrung sei aktuell Gold wert, betont Sibylle Berger. «Wir haben die chaotische Lage antizipiert. Einige Tage vor dem Machtwechsel haben wir noch 80 Tonnen medizinisches Material ins Land gebracht. Das wird noch einen Moment reichen.»

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