Menschenhandel in der Schweiz
«Ein Bauarbeiter musste trotz Knochenbrüchen harte Arbeit verrichten»

Opfer moderner Sklaverei werden nicht nur Frauen im Sex-Gewerbe, sondern auch Männer auf Baustellen, sagt die Expertin Julia Kuruc im SonntagsBlick-Interview.
Publiziert: 05.11.2023 um 08:49 Uhr
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Aktualisiert: 06.11.2023 um 11:00 Uhr
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Expertin Julia Kuruc schlägt Alarm: Der Menschenhandel nimmt in der Schweiz zu.
Foto: Siggi Bucher
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Die Schweizer Plattform gegen Menschenhandel schlägt Alarm: Noch nie gab es in der Schweiz so viele mutmassliche Opfer dieser modernen Form der Sklaverei wie im letzten Jahr.
2022 wandten sich 324 Menschen Hilfe suchend an entsprechende Fachstellen – und 177 wurden tatsächlich als Opfer von Menschenhandel identifiziert. Ein grosser Teil der Betroffenen sind Frauen, doch die Zahl der Männer nimmt stetig zu: von elf Prozent im Jahr 2019 bis zu 23 Prozent im Jahr 2022. Expertin Julia Kuruc ist überzeugt: wirtschaftlicher Druck begünstigt Menschenhandel, teilweise schauen die Behörden bewusst weg

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Menschenhandel gibts auch am Zürichberg oder im Berner Diplomatenviertel.
Julia Kuruc, Sozialarbeiterin
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Frau Kuruc, weshalb gibt es Menschenhandel auch anderswo als an der Zürcher Langstrasse?
Julia Kuruc: Weil Menschenhandel nicht nur im Sexgewerbe stattfindet! Menschenhandel gibts auch am Zürichberg oder im Berner Diplomatenviertel, wo manche Hausangestellte zum Spottpreis arbeiten müssen – sieben Tage die Woche – oder in Nagelstudios, in der Landwirtschaft oder auf Baustellen.

Baustellen werden doch streng auf Schwarzarbeit kontrolliert. Wie kann es da zu Menschenhandel kommen?
Die Kontrollen sind längst nicht so streng, wie wir sie gerne hätten. Der Preisdruck in der Baubranche ist massiv. Die billigste Offerte gewinnt, also setzen Schweizer Baufirmen auf Subunternehmen. Am Ende schaut niemand so genau hin, unter welchen Bedingungen die Bauarbeiter wirklich arbeiten.

Wie funktioniert Menschenhandel auf einer Baustelle?
Bauarbeiter aus Südosteuropa werden mit falschen Versprechen in die Schweiz gelockt. Ihnen wird ein hoher Lohn versprochen. Sie erhalten keinen Arbeitsvertrag, am Ende werden ihnen horrende Summen für Kost und Logis abgezogen. Die Bauarbeiter können sich nicht wehren, sind allenfalls bei den Tätern verschuldet. Sie kennen die Sprache und die Schweizer Gesetze nicht. Ich kenne einen Fall, wo ein Bauarbeiter trotz Knochenbrüchen harte Arbeit verrichten musste.

Sie haben fünf Jahre lang in einer Fachstelle gearbeitet, die sich mit solchen Fällen beschäftigt. Welches Schicksal hat Sie besonders berührt?
Eine Nigerianerin floh übers Mittelmeer nach Italien. Dort wurde sie zur Prostitution gezwungen. Als sie schwanger wurde, floh sie in die Schweiz, um dem gewalttätigen Zuhälter zu entkommen.

Und dann?
Die Schweiz wollte die schwangere Nigerianerin nach Italien ausschaffen – also zurück in die Hände des Zuhälters. Glücklicherweise hat Italien zu jener Zeit Dublin-Rücknahmen gestoppt, sodass die Rückführung scheiterte.

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Das Dublin-System ist ein Steigbügelhalter für Menschenhandel.
Julia Kuruc, Sozialarbeiterin
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Auch der Bund muss sich an das Dublin-System halten.
Nein, muss er nicht. Das Dublin-System ist ein Steigbügelhalter für Menschenhandel. Es spielt den Verbrechern in die Hände. Die Schweiz kann das Dublin-Verfahren jederzeit aussetzen. Laut Europaratskonvention ist die Schweiz verpflichtet, Menschen zu schützen – unabhängig von der Dublin-Regelung.

Gehen die Kantone unterschiedlich mit dem Problem des Menschenhandels um?
Es macht einen grossen Unterschied, in welchem Kanton Menschen ausgebeutet werden. Es gibt Kantone, in denen es offiziell keinen Menschenhandel gibt, weil es keine Behörde und keine Fachstelle gibt, die genau hinschaut. Ganz anders beispielsweise im Kanton Waadt. Hier macht die Fachstelle Astrée einen super Job – die Opfer von Menschenhandel erhalten professionelle Unterstützung und vorübergehend einen legalen Aufenthalt.

Julia Kuruc

Die Sozialarbeiterin Julia Kuruc (39) leitete fünf Jahre lang das Opferschutzprogramm Menschenhandel bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in Zürich. Die FIZ setzt sich für den Schutz und die Rechte von Migrantinnen und Migranten ein, die von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind.

Die Sozialarbeiterin Julia Kuruc (39) leitete fünf Jahre lang das Opferschutzprogramm Menschenhandel bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in Zürich. Die FIZ setzt sich für den Schutz und die Rechte von Migrantinnen und Migranten ein, die von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind.

Kann ein begrenzter legaler Aufenthalt Menschen in Not tatsächlich helfen?
Er hilft, ein neues Kapitel im Leben aufzuschlagen – ohne die Angst, sofort ausgeschafft zu werden. Opfer von Menschenhandel sind zutiefst traumatisiert. Sie leben in Angst, geschlagen und vergewaltigt zu werden. Die Hemmschwelle, zur Polizei zu gehen, ist sehr hoch. Von daher ist die Verschnaufpause wichtig.

Was geschieht in dieser Zeit?
Die physische und psychische Gesundheit hat oberste Priorität. Die Betroffenen leben in einer geschützten Unterkunft. Sie werden betreut und können sich überlegen, ob sie Anzeige erstatten. Viele haben Angst, dass sie ausgeschafft werden, wenn bekannt wird, dass sie illegal in der Schweiz sind. Aber ohne Zeuginnen und Zeugen können wir Menschenhandel nicht bekämpfen. Das Opfer ist oft die einzige Person, die den Menschenhandel bezeugen kann.

Wie stellen Sie Kontakt zu den Opfern her?
Niemand kommt und sagt: Hey, ich bin Opfer von Menschenhandel. Es braucht Menschen, die hinschauen und die Zeichen lesen können. Viele kommen über die spezialisierte Polizei zu uns, und es gibt die aufsuchende Sozialarbeit. Wir kommen zumeist erst ins Spiel, wenn es nicht mehr geht. Zum Beispiel, wenn Ärztinnen bei Untersuchungen einen Verdacht schöpfen. Oder nach einem Suizidversuch. Wir sehen aber nur die Spitze des Eisbergs.

Wie könnte man den Menschenhandel in der Schweiz stoppen?
Mit höheren, fairen Löhnen sowie starken Gewerkschaften und Arbeitsinspektoraten, die das kontrollieren. Obwohl die Schweiz so reich ist, muss alles immer noch billiger sein. Das begünstigt Menschenhandel. Gleichzeitig ist es ein Skandal, dass einige Kantone behaupten, es gäbe bei ihnen keinen Menschenhandel – und so begründen, dass sie deswegen weder eine spezialisierte Polizei noch eine Fachstelle zur Unterstützung der Opfer brauchen.

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