Mit Erreichen des Rentenalters stellen sich schwierige Fragen. Soll man sein Pensionskassenguthaben beziehen und Hunderttausende Franken aufs Konto erhalten? Oder lieber auf die garantierte Rente setzen?
Hätte man nicht mehr Geld im Monat, wenn man sein Kapital anlegen und verbrauchen würde? Doch wie lange muss es reichen? Dass der Entscheid unwiderruflich ist, macht es nicht einfacher. Und das Bauchgefühl ist hier kein guter Ratgeber.
Deutlich mehr Kapitalbezug
Der Kapitalbezug ist beliebter geworden. Von 2012 bis 2022 hat sich die pro Jahr bezogene Summe mehr als verdoppelt, und die Zahl derjenigen, die PK-Kapital beziehen, ist von 34'000 auf 54'000 gestiegen. Durchschnittlich erhielt jeder von ihnen 240'000 Franken.
Noch steiler verläuft die Kurve bei der Publica, der Pensionskasse des Bundes. Es wurde viermal so viel Kapital bezogen wie zehn Jahre zuvor. Inzwischen nimmt die Mehrheit der neu Pensionierten mindestens einen Teil des Kapitals.
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Die Publica hat ihre Versicherten nach den Gründen gefragt. Laut Publica-Direktorin Doris Bianchi gibt es einen Zusammenhang mit dem Umwandlungssatz, mit dem die Rente berechnet wird: Je tiefer dieser ist, desto höher der Anteil des Kapitalbezugs.
Allerdings seien steuerliche Gründe noch häufiger genannt worden – Renten werden stärker besteuert als Kapitalbezüge.
Die Umwandlungssätze sinken seit Jahren. Lagen sie laut der Swisscanto-Pensionskassenstudie 2015 noch bei durchschnittlich 6,25 Prozent, sind sie jetzt bei 5,31 Prozent angelangt. Bei einem Altersguthaben von 500'000 Franken bedeutet das: Statt rund 2600 Franken Monatsrente gibt es nur noch gut 2200 Franken.
Kein Wunder, wird der Kapitalbezug attraktiver. Hinzu kommt, dass es heute relativ einfach ist, mit passiven Fonds sein Geld breit gestreut und kostengünstig anzulegen.
Die Schattenseiten des Kapitalbezugs
Es gibt allerdings Kritik an der Entwicklung. So warnte Eliane Albisser, Geschäftsführerin des gewerkschaftlichen PK-Netzes, kürzlich vor immer mehr Kapitalbezügen. Er sei «kein gutes Zeichen für die Versicherten». Vom Gesetz her stehe die Rente im Vordergrund. Denke man den Trend zum Kapitalbezug zu Ende, dann werde die Idee der kollektiven Absicherung von Lebensrisiken völlig ausgehöhlt.
Auch der Direktor des Pensionskassenverbands, Lukas Müller-Brunner, macht sich Sorgen. Er schrieb vor kurzem, zur beruflichen Vorsorge gehöre es primär, Renten auszuschütten, um das Alter abzusichern. Werde zu viel Altersguthaben als Kapital ausgezahlt, stelle sich rasch die Frage der Existenzberechtigung der zweiten Säule.
Als ein Treiber des Trends gilt die Finanzbranche. Müller-Brunner bezweifelt, dass bei einer Beratung, bei der gleich ein Vermögensverwaltungsmandat angeboten wird, «die Rentenoption mit all ihren Vorzügen herausgestrichen wird».
Zu diesen Vorteilen zählen, dass die Rente lebenslang fliesst, auch Leistungen für Hinterbliebene versichert sind und man sich nicht um die Geldanlage kümmern muss. Anderseits bleibt ein Teil des Geldes in der PK, wenn man früh stirbt, ausserdem reduziert die Inflation die Kaufkraft der Rente, und der Umwandlungssatz ist unter Umständen sehr niedrig.
Da kommt man schnell auf Gedanken wie: Bei einem Umwandlungssatz von 5 Prozent könnte man genauso gut das Kapital in einen Tresor legen, jedes Jahr 5 Prozent verbrauchen, und es würde 20 Jahre reichen. Also müsste es doch möglich sein, selbst mehr zu erwirtschaften als die PK-Rente.
Viele Faktoren spielen mit
Eine entscheidende Prämisse ist, wie lange das Geld reichen muss. Statistisch haben 65-jährige Männer noch etwa 20 Lebensjahre vor sich, Frauen mehr als 22. Banken rechnen meist mit diesen Zahlen, wenn sie die Vorteile des Kapitalbezugs aufzeigen.
Aber ist das sinnvoll? «Nein», sagt Reto Spring, Präsident des Finanzplanerverbands, gegenüber dem Beobachter. Die Lebensumstände spielen die grösste Rolle für die Lebenserwartung. Bei den meisten Empfehlungen aber würden Faktoren wie Rauchen, Alkohol, Gewicht, Wohnsituation, Stress oder Schlaf nicht berücksichtigt.
«Normalerweise schätzen die Menschen ihre Lebenserwartung zu tief ein. Man sollte heute eher von 90 bis 95 Jahren ausgehen», sagt Spring. Auf der Website wie-alt-werde-ich.de lässt sich spielerisch erkunden, wie sich die einzelnen Faktoren auswirken.
Der Pensionskassenberater Eric Schertenleib hat berechnet, welche Anlagerisiken eine Privatperson eingehen muss, um das sogenannte Langlebigkeitsrisiko – also dass das Geld zu Lebzeiten ausgeht – zu mindern. Sein Fazit: «In den meisten Fällen ist es für eine Einzelperson schwieriger, die gleiche Altersleistung wie eine Pensionskasse zu erwirtschaften. Die Vorstellung, dass man das Kapital sowieso besser anlegen kann als die eigene PK, halte ich für übermütig.»
Wenn man sich jedes Jahr 5 Prozent seines PK-Kapitals als «Rente» auszahlt, wäre es ohne Verzinsung im Alter 85 aufgebraucht. Soll es aber bis 90 reichen, braucht man eine jährliche Nettorendite von rund 2 Prozent. Und wenn man noch als 95-Jähriger davon zehren will, sind schon 3 Prozent Durchschnittsrendite nötig. Netto, wohlgemerkt.
Das sind Renditen, wie sie die Anlageprofis der Pensionskassen erzielen. Dort betragen die Vermögensverwaltungskosten um die 0,5 Prozent – bei Privaten sind sie aber oft deutlich höher. Spring: «Gut sind Verwaltungskosten unter 1 Prozent, 0,5 Prozent sind hervorragend.» Ein Problem sei aber, dass ein Teil der Kosten direkt dem Fondsvermögen belastet wird. «Ein aktiv gemanagter Fonds, der 1,5 Prozent Kosten ausweist, kostet dann in Wirklichkeit zum Beispiel bis zu 3 Prozent.»
Es droht emotionaler Stress
Generell empfiehlt er, erst ab einem Vorsorgevermögen von 500'000 Franken einen Kapitalbezug in Betracht zu ziehen. Weil das Geld auf dem Konto wegen der Inflation wegschmelzen würde, muss man es anlegen. Vorher schaden ein paar selbstkritische Fragen nicht:
- Wie diszipliniert gehe ich mit Geld um?
- Kann ich Börsenabstürze aussitzen, ohne teure Fehlentscheidungen zu treffen?
- Was ist mit dem Risiko, von Betrügern abgezockt zu werden, wenn Fakevideos immer besser werden?
Aus Springs Sicht kommt hinzu: «Die meisten Menschen sind ab 70 nicht mehr sehr erpicht darauf, sich ständig mit den Finanzen zu beschäftigen.»
Angenommen, ein Kapitalbezug – oder ein Teilbezug – ist trotzdem individuell richtig. Und angenommen, man hat auch einen realistischen Anlage- und Entnahmeplan (wie das geht, steht im Beobachter-Buch «Mit der Pensionierung rechnen»). Dann kann trotzdem emotionaler Stress entstehen, wenn man auf die Sicherheit der Rente verzichtet. Denn, so Spring: «Diejenigen, die immer angestellt waren, haben nie gelernt, mit schwankenden Einnahmen umzugehen.»
Und auch das hat Spring beobachtet: Das Vermögen aufzubrauchen – das muss man meist bei einem Kapitalbezug –, können nicht alle einfach so. Wer ein Leben lang gespart hat, will oft weiterhin sparen, anstatt sich etwas zu gönnen. «Denen sage ich dann: Sie müssen nicht die oder der Reichste auf dem Friedhof sein.»