Die Schweizer Bevölkerung wächst so schnell wie in keinem anderen Land in Europa. Netto sind im letzten Jahr fast 100'000 Menschen eingewandert, womit inzwischen gut 9 Millionen Menschen im Land leben. Das sorgt für Dichtestress, Wohnungsknappheit und steigende Mieten. Die Gesundheitskosten und Strompreise schenken noch zusätzlich ein.
Für immer mehr Menschen ist klar: Das Mass ist voll. Die Schweizer Wirtschaft wächst nur mehr in die Breite. Beim Einzelnen nimmt der Wohlstand sogar ab, so der Eindruck vieler. Da hätten es die glücklichen Babyboomer in den 1980er und 1990er Jahren deutlich besser gehabt.
Das Amt für Wirtschaft Kanton Zürich (AWI) ist der Frage nachgegangen, wie sich der Wohlstand in Zürich und auch in der Schweiz über die Jahrzehnte entwickelt hat. «Der Wohlstandszuwachs in den letzten 30 Jahren wird deutlich unterschätzt», sagt Luc Zobrist (37), Leiter Volkswirtschaft beim AWI, zu Blick.
Mehr Freizeit als Wohlstandsgewinn
Das Zürcher Bruttoinlandprodukt (BIP) wuchs inflationsbereinigt von 1991 bis 2022 durchschnittlich um 1,8 Prozent pro Jahr. In der gleichen Zeit stieg das BIP pro Kopf inflationsbereinigt von 81'000 Franken auf 104'000 Franken an – also um 0,8 Prozent pro Jahr. Zum Vergleich: Schweizweit war das Wachstum in den letzten 15 Jahren etwas höher, wodurch der Rückstand auf Zürich kleiner wird. 2022 betrug das Schweizer BIP pro Kopf 84'700 Franken.
Die Daten zeigen aber auch, dass sich das Wirtschaftswachstum pro Kopf in Zürich im neuen Jahrtausend deutlich verlangsamt hat. Also quasi zeitgleich mit der Einführung der Personenfreizügigkeit, welche die Zuwanderung im Kanton deutlich beschleunigt hat. «Das erweckt den Eindruck, dass wir nur in die Breite wachsen», sagt Zobrist. Ein entscheidender Faktor werde dabei jedoch oft vergessen.
So ist das BIP pro Arbeitsstunde innerhalb von 30 Jahren mit 39 Prozent deutlich stärker gestiegen, als es beim Pro-Kopf-Wachstum mit 28 Prozent der Fall ist. Im schweizweiten Vergleich ist die Differenz noch grösser: 45 Prozent gegenüber 29 Prozent. «Die Menschen erwirtschaften also deutlich mehr pro Stunde, arbeiten gleichzeitig aber immer weniger. Auch das ist ein Wohlstandsgewinn», sagt Zobrist.
In Zürich nahmen die Arbeitsstunden pro Kopf um 80 Stunden pro Jahr ab. Die Einwohnerinnen und Einwohner gewinnen damit fast einen halben Nachmittag pro Woche an Freizeit dazu. Schweizweit lag der Gewinn an Freizeit nochmals um 50 Prozent höher.
Das erstaunt mit Blick auf die starke Zunahme der Berufstätigkeit bei den Frauen. So ist die Erwerbstätigkeit in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Wie kann es da sein, dass pro Kopf weniger Stunden gearbeitet werden? «Die Wochenarbeitszeit bei Vollzeitpensen ist gesunken und die Ferientage sind gestiegen», erklärt Zobrist.
Arbeitsproduktivität ist der grössere Wachstumstreiber
Gemessen am BIP pro Arbeitsstunde nahm der Wohlstand in Zürich in den letzten 30 Jahren gar um 1,1 Prozent pro Jahr zu. Damit entfallen 58 Prozent des Wirtschaftswachstums auf die höhere Produktivität und lediglich 42 Prozent auf die wachsende Bevölkerungszahl. Obwohl Zürich als Finanzplatz viel stärker unter den Folgen der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2007 gelitten hat, nimmt der Anteil des Bevölkerungswachstums am Wirtschaftswachstum seither sogar ab – allerdings sind die letzten beiden Jahre noch nicht berücksichtigt.
In der übrigen Schweiz sieht es im Vergleich zu Zürich noch etwas rosiger aus: Hier ist die Wirtschaft im Verhältnis zur Bevölkerung stärker gewachsen.
So stark haben die Löhne profitiert
Wirtschaftswachstum in Ehren. Für die Arbeitsbevölkerung ist am Ende entscheidend, wie viel davon sich neben der Arbeitszeitverkürzung in ihrem Lohn niederschlägt. In den letzten Jahren landeten in der Schweiz knapp 60 Prozent des BIP-Wachstums in den Taschen der Arbeitskräfte, wie Berechnungen der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich zeigen. Das Einkommen pro Arbeitsstunde hat sich seit 1991 fast im Gleichschritt mit dem realen BIP entwickelt. Und auch an der Einkommensverteilung hat sich nur wenig verändert.
Mit Ausnahme der letzten zwei bis drei Jahre, in denen die Preisanstiege in vielen Branchen zu Reallohnverlusten geführt haben. Die Corona-Pandemie, Lieferketten-Probleme oder der Ukraine-Krieg setzten der Weltwirtschaft und der Schweiz zu – und tun dies zum Teil nach wie vor. Als Folge ist die Schweizer Wirtschaft in den letzten zwei Jahren tatsächlich stärker in die Breite gewachsen. Eine Mini-Krise beim Wachstum. Doch in der Vergangenheit hat sich die Schweizer Wirtschaft von weit grösseren Krisen innert weniger Jahre erholt.
Zurück zur Langzeitperspektive: In den letzten Jahrzehnten gab es noch einen weiteren Wohlstandseffekt, der bis anhin unterschlagen wurde: Schweizerinnen und Schweizer können sich heute nicht nur mehr leisten als vor 30 Jahren. «Sie profitieren zudem von der viel höheren Qualität vieler Güter und Dienstleistungen, die mit dem BIP nur teilweise erfasst werden kann», so Zobrist. So standen in den Haushalten früher noch ganze Brockhaus-Enziklopädien herum. Heute können sich die Leute das Wissen beispielsweise kostenlos auf Wikipedia holen. Auch der Zugang zu Musik ist durch Streamingportale deutlich einfacher und günstiger geworden.