Kathrin Schmid (39) arbeitet im 50-Prozent-Pensum beim Start-up Friendly, einem Schweizer Datahosting-Unternehmen mit Sitz in Hergiswil NW. Ihr Lohn: 4287.50 Franken, brutto. Sie hat Anrecht auf sechs Wochen Ferien und kann so oft unbezahlte Ferien in Anspruch nehmen, wie sie will.
Diese Angaben teilt sie mit aller Welt: Schmid hat ihren Arbeitsvertrag auf der Plattform Linkedin veröffentlicht. Weitere Mitarbeitende auch. Firmengründer Stefan Vetter (43) erklärt: «Wir sind ein Open Start-up und die einzige Firma schweizweit, die komplett transparent ist.»
«Open Start-ups» zeichnen sich durch extreme Transparenz aus. Die Offenlegung von Daten und Prozessen soll eine vertrauensvolle Beziehung zu Investoren schaffen sowie Feedback generieren. Die aggregierten Geschäftszahlen legt Vetter seit Juni 2020 im Monatsrhythmus offen, «natürlich ohne Kundendaten». Neuerdings auch Arbeitsverträge. Wobei Vetter selber nicht zu finden ist: Er verfüge als Gründer nicht über einen Vertrag.
Aufmerksamkeit garantiert
Die Reaktionen sind gemischt. Der Linkedin-Post mit den Arbeitsverträgen generierte rund 300 Kommentare. Manche schätzen die Offenheit und loben die simplen Vertragswerke. Andere haben Bedenken, ob die Verträge arbeitsrechtlich genügen und Datenschutzgesetze genügend respektiert werden.
Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Das Unternehmen Friendly ist ein Datenschutz-Spezialist. Gegenüber Blick versichert Vetter: «Alle Mitarbeitenden legen ihre Arbeitsverträge freiwillig offen, es gibt keinen Zwang.» Sensible Daten wie die Privatadresse sind verpixelt, ein Geburtsdatum gar nicht erst im Vertrag vermerkt. Auf Wunsch würde auch mehr verpixelt.
Warum die Offenheit? «Für Friendly ist die Transparenz eine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und sich von anderen Unternehmen abzuheben», erklärt Vetter. Dazu schaffe er so bei Kunden Vertrauen: «Sie wissen, dass ihr Geld sinnvoll genutzt wird und nicht für den Lamborghini des Gründers.»
Wird eine Grenze überschritten?
Martin Steiger (45), Anwalt für Recht im digitalen Raum, fragt sich, ob bei der Publikation der Arbeitsverträge «eine Grenze überschritten wird». Die veröffentlichten Arbeitsverträge sind minimal gehalten, weshalb Steiger für die Mitarbeiter «keine wesentlichen Gefahren» sehe. Es könnten aber rechtliche Fragen entstehen, etwa beim Arbeitsort («wo sie will») oder der Arbeitszeit («wann sie will»): «Solche Bedingungen sind arbeitnehmerfreundlich und vorbildlich, aber allenfalls nicht mit dem geltenden Steuer- und Sozialversicherungsrecht kompatibel», so Steiger.
Beispiel: Kann der Sitz von Friendly in Hergiswil sein, wenn dort gar nicht gearbeitet wird? Was bedeutet es, wenn eine Arbeitnehmerin im Ausland arbeitet? Wie erfolgt die Absicherung in unbezahlten Ferien? Wie erfolgt die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall? Steiger fragt sich, ob ein solcher Arbeitsvertrag praxistauglich sei.
Vertrag entspricht nicht dem Arbeitsrecht
Arbeitsrechts-Expertin Daniella Lützelschwab (56) vom Schweizerischen Arbeitgeberverband wird deutlicher: «Aus rechtlicher Sicht entspricht der Vertrag nicht dem aktuellen Arbeitsrecht.» Insbesondere fehle in minimaler Form eine Information über die zwingenden Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit der Mitarbeitenden. Dazu gehören Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen.
Ebenso ist die Freiwilligkeit zweifelhaft. «Wenn jemand eigentlich dagegen ist, dass der Arbeitsvertrag öffentlich gemacht wird, sich aber nicht getraut, dies kundzutun – weil Gruppendruck besteht und alle anderen im Unternehmen nichts einwenden, oder weil ihr Vorgesetzter das möchte – dann ist das mehr als nur heikel», so Lützelschwab.
Arbeitgeber müssten mit gutem Grund die Persönlichkeit und Gesundheit der Arbeitnehmer achten und schützen. Dazu gehört der Schutz vor unbefugter Weitergabe von persönlichen Informationen. «Dazu zählen auch Arbeitsverträge», so Lützelschwab.
Kaum Imitatoren
Beide Experten rechnen nicht damit, dass das Friendly Beispiel Schule machen wird: «Die meisten Menschen in der Schweiz zählen Informationen über ihr Arbeitsverhältnis zu ihrer Privatsphäre», so Steiger.
Open Start-ups sind auch in Ländern, in denen Löhne weniger tabuisiert sind als in der Schweiz, eher selten. Weil die hohe Transparenz viele Tücken hat. Das weiss auch Vetter: Ein offengelegter Verlust im Geschäftsjahr 2023 führte zu Verunsicherung bei Kunden und Interessenten. Inzwischen sei Friendly aber wieder profitabel.