Die Angst war gross im Herbst, dass die Schweiz und ihre Wirtschaft vom geopolitischen Chaos des Ukraine-Kriegs mitgerissen werden könnte. Damals brummte der Konjunkturmotor zwar noch, doch es drohte eine Energiekrise, Pessimismus machte sich breit.
Rudolf Minsch (55), Chefökonom des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse, sprach im Blick von einem «Multifrontenkrieg», den die Unternehmen gerade auszufechten hätten. Doch der harte Winter – und damit der befürchtete Strom- und Gasmangel – blieb aus. Schon im Januar konnte Jan-Egbert Sturm, Leiter der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich, im Interview verkünden: «Die Welt schwächelt, die Schweiz zeigt Stärke.»
Wirtschaftsfreundliche Bevölkerung
Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Es geht uns wirtschaftlich besser, als wir uns fühlen! «Wir bewegen uns von Krise zu Krise und stellen immer wieder fest, wir haben das gut gemacht», sagt Heike Scholten (52). «Die Schweizer Wirtschaft ist resilient und agil.» Kann also schnell auf konjunkturelle und besondere Herausforderungen wie zum Beispiel die Corona-Pandemie reagieren.
Die Sozialwissenschaftlerin arbeitet derzeit an einem Projekt, das die Einstellung der Schweizer Bevölkerung zur Wirtschaft erforscht. «Die Schweizerinnen und Schweizer sind im Vergleich zu anderen Ländern viel wirtschaftsfreundlicher», so Scholten.
Eine gute Basis für erfolgreiches Wirtschaften. Wie gerade auch die jüngsten Konjunkturzahlen zeigen. Die Teuerung ist im April erfreulich stark gesunken. Die Arbeitslosenquote lag bei 2,0 Prozent. Und damit im April so tief wie seit 2001 nicht mehr.
Es geht nicht nur um die Löhne
«Die Schweizer Wirtschaft hat von den milden Temperaturen profitiert», sagt Caroline Hilb (45), Leiterin Anlagestrategie bei der St. Galler Kantonalbank. «Die Industrie hatte noch volle Auftragsbücher, auch der Bau lief gut. Selbst im Winter haben Baufirmen händeringend nach Arbeitskräften gesucht.»
Der robuste Arbeitsmarkt und der Fachkräftemangel stärken die Verhandlungsmacht von Arbeitern und Angestellten. Allerdings ohne diese für Lohnexzesse zu missbrauchen: «Zwar sind die Löhne auch wegen der Inflation gestiegen. Doch es wird auch über mehr Ferien, flexiblere Arbeitszeiten und -orte verhandelt», so Hilb.
Der Vorteil: Eine Lohn-Preis-Spirale, die die Teuerung noch weiter anheizen würde, droht in der Schweiz weniger. Das wissen auch die Arbeitgeber zu schätzen. «Die Schweiz hat viele moderne Unternehmer am Puls der Zeit. Sie wissen, die Mitarbeitenden sind meine Ressource, mit ihnen möchte ich meinen Laden rocken», erklärt Scholten. Ihr Fazit: «Wirtschaft in der Schweiz macht Freude, es gibt viele Erfolgsgeschichten.»
Konsum läuft gut
Und so schnell lässt sich die Schweizer Wirtschaft die Freude nicht verderben: Denn viel Wachstum gabs in den ersten Monaten des laufenden Jahres wohl nicht, doch das wird sich bald wieder ändern, ist Hilb überzeugt: «Die Auftragsbücher der Industrie füllen sich im Moment weniger, aber die Situation wird sich in der zweiten Jahreshälfte entspannen. Der Ausblick ist positiv, das hört man auch von den Unternehmen selber.»
Das hat auch mit der in den Nachbarstaaten bedeutend höheren Inflation zu tun. «Die Schweizer Industrie kann ihre – im Vergleich zum Ausland moderaten – Preiserhöhungen besser durchsetzen als Konkurrenten in anderen Staaten», erklärt Hilb.
Eine wichtige Stütze der Schweizer Wirtschaft ist der Konsum. Und der brummt, obwohl die Stimmung bei den Konsumenten getrübt ist: «Das lässt sich aber in den Detailhandelsumsätzen nicht ablesen, die haben im ersten Quartal real sogar zugelegt», so Hilb.
Das hat auch damit zu tun, dass dank der tiefen Arbeitslosigkeit die Arbeitsplatzsicherheit in der Schweiz hoch ist. «Die Leute haben Vertrauen in die Schweizer Volkswirtschaft, leisten sich grössere Anschaffungen», sagt Hilb.
Sparsame Schweiz
Von der starken Schweizer Wirtschaft profitieren nicht zuletzt die Kantone und ihre Finanzen. Erstmals seit 14 Jahren weisen alle Kantone in ihren Staatsrechnungen 2022 schwarze Zahlen aus. Die Gründe: Eine vorsichtige Budgetierung, aussergewöhnlich hohe Steuereinnahmen und die hohe Gewinnausschüttung der Nationalbank.
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nimmt der Staat in der Schweiz eine zurückhaltende Rolle ein. Staatliches Handeln werde nicht abgelehnt, so Scholten, aber es soll gezielt sein: «Es gibt in der Schweiz ein sehr hohes Bewusstsein, dass man nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt.»
Das sagt sich allerdings auch die Nationalbank, die im letzten Jahr einen grossen Verlust eingefahren hat. Deshalb wird die SNB in diesem Jahr keine Gewinnausschüttung an Bund und Kantone leisten. Das dürfte das eine oder andere Kantonsbudget für 2023 gleich wieder aus dem Lot bringen.