Kurz vor den Weihnachtsferien liess Nora Saratz (42), Gemeindepräsidentin von Pontresina im Oberengadin, eine Bombe platzen. Sie machte einen brisanten Vorschlag zur Linderung der Wohnungsnot: Wohnraum, der nicht als Erstwohnsitz genutzt wird, soll mit einer Steuer belegt werden. Die Einnahmen sollen in einen Fonds fliessen, aus dem bezahlbare Wohnungen für Einheimische gefördert werden. Das soll Immobilienbesitzer motivieren, ihre Zweitwohnungen zu vermieten oder als Erstwohnungen auf den Markt zu bringen. Dann entfällt die Steuer.
Das Vorgehen von Saratz wird vom Bundesgericht gestützt. Nach einem vierjährigen Rechtsstreit hat das höchste Gericht 2014 entschieden, dass eine Steuer auf nicht bewirtschaftete Zweitwohnungen rechtens ist. Dennoch hat bis heute keine Gemeinde eine solche Steuer eingeführt. Am nächsten dran war Silvaplana, weiter oben im Engadin. Die bereits beschlossene Steuer wurde durch einen Rückkommensantrag wieder zu Fall gebracht.
Nun nimmt Pontresina einen neuen Anlauf. Bei den «Zweitheimischen», wie die Zweitwohnungsbesitzer im Tal auch genannt werden, kommt das Vorhaben nicht gut an. An einer «Dialogveranstaltung» hagelte es Kritik. «Wir Zweitwohnungsbesitzer sind nicht schuld an der Misere auf dem Erstwohnungsmarkt», sagte eine Votantin laut «Engadiner Post». Ein anderer sprach von einem «absolut unsolidarischen Vorgehen». Pontresina manövriere sich ins Abseits. Auch Boykottdrohungen gegen das lokale Gewerbe wurden laut.
Mehr zur Zweitwohnungs-Problematik
Christian Jott Jenny (45), Gemeindepräsident von St. Moritz GR, überrascht diese Reaktion nicht. «Eine solche Abgabe trifft den Zweitwohnungsbesitzer an einem neuralgischen Punkt», sagt er. Dieser fühle sich «sowieso oft nicht willkommen» und zahle ohnehin schon viel Steuern. «Wir müssen einen vernünftigen, fairen Weg finden, um dieses Problem zu lösen», sagt der Politiker und bekannte Entertainer. «Alle Gemeinden im Oberengadin sind finanziell sehr gut aufgestellt. Daran kann es also nicht liegen.»
«Zweitheimische» zahlen schon jetzt massiv drauf
Tatsächlich bezahlen Zweitwohnungsbesitzer schon heute deutlich mehr für ihre Wohnung als Einheimische. Seit der Annahme der Zweitwohnungs-Initiative vor über zehn Jahren hat sich die Preisschere zwischen Erst- und Zweitwohnungen stark geöffnet. Wie sehr, zeigen aktuelle Beispiele, die zum Verkauf stehen: In Flims GR gibt es mehrere Überbauungen mit Erst- und Zweitwohnungen. Im Projekt Novita kostet die 3,5-Zimmer-Wohnung für Einheimische 1,09 Millionen Franken. Die nur zwei Quadratmeter grössere Zweitwohnung kostet dagegen 1,86 Millionen Franken. Ein Preisunterschied von 70 Prozent. Grosse Unterschiede gibt es auch beim Projekt LanezziOne. Dort sind die Zweitwohnungen rund 40 Prozent teurer als die Erstwohnungen.
Zwar mögen die Zweitwohnungen attraktiver geschnitten sein oder eine etwas bessere Aussicht bieten, doch auf den Quadratmeter Wohnfläche umgerechnet sind die Unterschiede frappant. Beide Flimser Projekte werden von Ginesta Immobilien vermarktet. Sascha Ginesta schätzt den Preisunterschied auf 30 Prozent. Der Immobilienexperte hatte eigentlich erwartet, dass sich die Preisschere noch weiter öffnet. Doch das sei nicht eingetreten. Das liege unter anderem daran, dass auch Erstwohnungen meist von der gleichen Klientel gekauft würden.
«Oft sind es ältere oder kinderlose Ehepaare, die ihren Wohnsitz in die Berge verlegen und somit berechtigt sind, eine Erstwohnung zu kaufen.» Oder es seien Familien, die im Unterland nur noch teilweise berufstätig seien und ihr Homeoffice in den Bergen eingerichtet hätten, sagt Ginesta, der in der gleichnamigen Immobilienfirma seines Cousins als Partner und Marketingleiter Graubünden tätig ist. Wenn Einheimische Erstwohnungen in Bergtourismusgebieten kaufen, dann weil sie ihr Einfamilienhaus verkaufen und in eine kleinere oder altersgerechte Wohnung ziehen wollen. Setzt sich diese Entwicklung fort, besteht die Gefahr, dass die Berggemeinden zu Altersresidenzen werden.
Warum aber kaufen junge Familien nicht Erstwohnungen, die viel günstiger sind als Zweitwohnungen? Weil sie für die meisten nach wie vor unerschwinglich sind, sagt Ginesta. Wer eine Wohnung für eine Million Franken kaufe, brauche 200’000 Franken Eigenkapital und ein Einkommen von über 160’000 Franken, um die Belastung tragen zu können. Bei den Löhnen in den Bergen sei das sehr schwierig.
Verdichtung in den Bergen?
Ginesta ist überzeugt, dass sich das Wohnungsproblem nicht mit mehr Wohneigentum lösen lässt. Er kennt die Problematik auch aus seiner politischen Tätigkeit als Gemeinderat in Vaz/Obervaz (Lenzerheide). Wohneigentum sei für viele junge Leute in der Region einfach nicht mehr bezahlbar und werde auch nicht immer nachgefragt. «Was fehlt, sind Mietwohnungen. Mehr Mietwohnungen bekommt man aber nicht von heute auf morgen, das sind langfristige Prozesse, die bei der Raumplanung beginnen.»
Die Gemeinden könnten sich ein Beispiel an den Städten nehmen und raumplanerisch eingreifen. Wie etwa die Stadt Zürich, die sich zum Ziel gesetzt hat, einen Anteil von einem Drittel gemeinnütziger Wohnungen zu erreichen. Berggemeinden könnten in bestimmten Bauzonen mit entsprechender Verdichtung eine solche Quote für Mietwohnungen einführen, sagt Ginesta.
Von Lenkungsabgaben oder höheren Steuern für Zweitwohnungsbesitzer hält er nichts. «Das füllt nur die ohnehin vollen Kassen der Gemeinden.» Keine einheimische Familie werde dadurch ein Dach über dem Kopf bekommen. Die Ferienwohnungsbesitzer werden die Faust im Sack machen und die zusätzliche Steuer bezahlen.
Christian Jott Jenny: «Die Probleme sind hausgemacht»
Auch Christian Jott Jenny aus St. Moritz glaubt nicht an eine schnelle Lösung. «Wir bebauen die allerletzten Parzellen und kaufen sogar alte Hotels, um wenigstens etwas zur Lösung beizutragen. Nur dauert das sehr lange. Doch die Wohnungen werden jetzt sofort gebraucht.» Ehrlicherweise müsse man sich auch eingestehen, dass ein «grosser Teil des Problems hausgemacht» sei. «Einheimische haben ihr Bauland verkauft und ihre Erstwohnungen in Zweitwohnungen umgewandelt, um sie dem Meistbietenden zu verkaufen – und nicht der vierköpfigen Familie Giovanoli, deren Vater im Winter noch Skilehrer ist.»